Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
machen. Sie war intelligent, charmant, warmherzig und gebildet. Sie war faszinierend, und ich verdanke ihr viele wunderbare Momente und Anregungen. Aber Alltag, Gleichmaß, Sicherheit und Beständigkeit passten ebenso wenig in ihren Kosmos wie schlechte Schulnoten oder eine pubertierende Tochter. Manisch-depressive Menschen können bezaubernd sein und das Leben schöner machen. Was ich nicht wusste, war, dass sie in depressiven Phasen auch feindselig, kritisch und abwertend gegenüber ihrer Umgebung sein können. Für Kinder psychisch kranker Eltern macht es das sehr schwierig, eine eindeutige Haltung gegenüber dem kranken Elternteil zu entwickeln. Man leidet unter den feindseligen Verhaltensweisen und hasst die Mutter oder den Vater dafür. Und in den »wunderbaren« Phasen liebt und bewundert man genau diesen Elternteil wieder und hat ein extrem schlechtes Gewissen, dass man diesen wunderbaren Menschen hassen konnte. Noch heute höre ich von vielen Menschen, die meine Mutter gekannt haben: »Aber sie war doch auch so ein wunderbarer, zugewandter und liebevoller Mensch!« Ja, das war sie. Auch.
Wie tief musste sie aus ihrer Sicht fallen, wenn die Krankheit sie einschränkte, wenn die Depression sie lähmte, wenn ihr das Aufstehen schwerfiel und die Organisation des Haushalts und alltägliche Verrichtungen zu einer ungeheuren Anstrengung wurden. Als Kind hielt ich mich für die Ursache ihrer Traurigkeit und ihrer Verstimmung. Vor der Diagnose Schizophrenie hatte ich nie darüber nachgedacht, dass die Krankheit meiner Mutter einen Einfluss darauf haben könnte, wie ich mit der psychischen Erkrankung meiner Tochter umgehen würde. Jahrelang glaubte ich, die Ursache für Lenas Erkrankung zu sein oder doch zumindest die Ursache für ihre Wut und ihre Aggressivität. Ich musste doch etwas falsch gemacht haben, wenn Lena so »böse« wurde, ebenso wie ich etwas falsch gemacht hatte, wenn meine Mutter »böse« oder traurig war. Ebenso wenig wie meiner Mutter konnte ich Lena Grenzen setzen, sondern litt unter ihren Stimmungen und verdoppelte meine Anstrengungen, alles richtig zu machen und keine Missstimmung hervorzurufen.
Psychisch Kranke fordern viel Aufmerksamkeit und Fürsorge. Schon als Zehnjährige war ich das Publikum für meine Mutter. Ich bewunderte sie, wenn sie von ihren Erfolgen erzählte, und ich war voller Mitgefühl, wenn sie unglücklich war. Früh lernte ich, ihre Stimmungen seismographisch zu erfassen, und versuchte, angemessen darauf zu reagieren. Nie hätte ich ihr widersprochen oder wäre nicht sofort zu ihr gegangen, wenn sie rief. Sie liebte mich, war traurig und brauchte einen Menschen, der ihr ein wenig Liebe zurückgab. Das tat ich. Ich servierte den Tee, hörte zu und applaudierte oder tröstete an den passenden Stellen. Ich begriff früh, was es bedeutet, wenn jemand einen Wunsch äußert und diese Forderung mit »Ich liebe dich doch« begründet. Er wurde in einer Weise vorgebracht, die jede Ablehnung oder jeden Widerspruch als undankbar, gefühlskalt und egoistisch hätte erscheinen lassen. Das alles wollte ich nicht sein. Ich wollte dankbar und lieb sein. Aber ich tat nie genug. Niemand hätte genug für meine Mutter tun können. Niemand kann je genug für einen psychisch kranken Menschen tun. Damals wäre ich gerne die Tochter gewesen, die sie verdient hatte.
Aber es gab auch die andere Seite meiner Mutter. Daher war sie für mich anfangs nicht krank, sondern wunderbar. Sie konnte vergnügt, anregend und zugewandt sein. Sie begeisterte sich für Literatur, lief mit Büchern hinter mir her, weil sie mir unbedingt einen Satz vorlesen musste. Sie nahm mich mit nach Paris und zeigte mir, wo sie als kleines Mädchen mit weißen Kniestrümpfchen und Hut spazieren geführt worden war. Sie liebte die französische Aufklärung und konnte zu jedem Platz oder Gebäude in Paris Geschichte und Geschichten von französischen Revolutionären und Philosophen erzählen, die ich wie ein Schwamm aufsaugte. Von ihr habe ich die Passion für Bücher übernommen. Oft wird Menschen mit einer manisch-depressiven Erkrankung eine ausgeprägte Kreativität zugeschrieben. Auf meine Mutter traf das sicher zu. Wenn es um Bücher, Theater und Musik ging, war sie glücklich. Wenn sie einen Geburtstag, ein Dinner oder eine Reise vorbereiten konnte, war die Depression verschwunden.
Bei meiner Mutter lernte ich, alles hinzunehmen, was sie wollte und sagte. Ich wunderte mich über keine Verhaltensweise, ich hatte ja kein
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