Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
anderes Modell. Vermutlich entwickelte ich schon als Kind die Überlebensstrategie, vorausschauend alles zu verstehen, was andere Menschen wollen. Ich habe feine Antennen dafür entwickelt, zu erspüren, was mein Gegenüber will oder was ihn stört. Ich habe so viel Verständnis und so viel Mitgefühl entwickelt, dass es mir immer schwerer fiel, Grenzen zu setzen.
Ich wusste nicht wirklich, dass meine Mutter krank war und nicht einfach ein Mensch, der mir durch seine unvorhersehbaren Verhaltensweisen das Leben schwermachte. Niemand erklärte mir, was das Etikett »manisch-depressiv« bedeutet oder was ich tun könnte, wenn jemand unter diesen Stimmungen leidet. Und die wunderbaren Momente, die ich mit meiner Mutter erlebte, ließen nicht an eine Krankheit denken.
Die aufregenden und interessanten Momente einer manischen Phase sind es auch, warum manche der Betroffenen niemals auf ihre Krankheit verzichten wollen. Ich bin erstaunt zu hören, dass es ja nicht nur schlecht sei, diese Krankheit zu haben. »Es ist manchmal auch ganz schön«, lacht uns ein junger Mann verschmitzt an, der gerade aus einem Buch über seine Psychose Details seiner Krankheit vorgelesen hat, die mir erschreckend vorkommen. Als der Regisseur und Schauspieler Stephen Fry am Ende seines Films »The Secret Life of a Manic Depressive« (Das geheime Leben eines Manisch-Depressiven) gefragt wird, ob er den Knopf drücken würde, der ihn von seiner bipolaren Erkrankung befreit, lächelt er den Interviewer an und sagt »Not for all the rice in China« – »um nichts in der Welt!«
Auf Lenas Krankheit war ich mit diesem familiären Hintergrund gut vorbereitet. Auch ihr passte ich mich an, ich nahm jeden Vorwurf ernst und fühlte mich verantwortlich für alles, was sie empfand und tat. Die Aufklärung über die Krankheit ist vierzig Jahre später immer noch genauso mangelhaft wie damals. Bis auf die Ärzte in der Jugendpsychiatrie hat mich selten ein Arzt oder ein Therapeut meiner Tochter über die Therapie (außer der medikamentösen), geschweige denn über die Therapie ziele , informiert. Dabei wäre das sehr wichtig gewesen, denn ob ich oder die behandelnden Psychiater oder auch Lena das wollen oder nicht, ich bin ein Teil ihres sozialen Umfeldes und häufig ein sehr großer Teil. Ich kann die Therapieziele unterstützen oder sie – aus Unwissenheit – konterkarieren. Natürlich will ich sie unterstützen, aber wie kann ich das, wenn ich nicht weiß, was das Ziel ist und wie es erreicht werden soll? Ich bin ständig damit beschäftigt, mir (vielleicht unnötige) Sorgen zu machen und finanzielle oder logistische Hilfe zu leisten. Vor allem aber hält mich das Gefühlsmanagement in Atem , das notwendig ist, um nicht permanent mit Lena in Konflikt zu leben. Ich erlebe starke, ständig wechselnde Emotionen, deren Ursprung ich nicht kenne. Ich werde beschimpft und als die Ursache der Krankheit angesehen. Lenas Ausdrucksweise ist oft beschämend für mich. Ich muss mit ansehen, wie sie sich vernachlässigt, ich erlebe ihre Traurigkeit. Und bald erlebe ich auch ihre unkontrollierten Geldausgaben, die mich selbst finanziell stark belasten. Niemand hat mir erklärt, dass es sich dabei um Krankheitssymptome handelt und wie ich damit umgehen kann. Die Schizophrenie-Erkrankung meiner Tochter hat eine gravierende Auswirkung auf mein Leben, und sie schwächt mich. Gleichzeitig soll ich ein stabiles soziales und emotionales Umfeld sein. Schizophrenie ist eine Krankheit, die nicht nur die Kranken betrifft, sie betrifft ebenso deren unmittelbares Umfeld.
Psychisch kranke Menschen, weiß ich heute, brauchen Klarheit und Struktur, nicht Nachgiebigkeit bis zur Selbstaufgabe oder Überbehütung. Es wäre für Lena besser gewesen, wenn ich ihr von Anfang an Sicherheit und Klarheit hätte vermitteln können. Wenn ich Grenzen eingehalten, aber auch eingefordert hätte und deutlich gesagt hätte, wann ein Verhalten für mich schwierig oder unerträglich war. Aber als Kind einer psychisch kranken Mutter ist es mir immer schwergefallen, mich Menschen gegenüber durchzusetzen, die ich liebe. Erst der langjährige Umgang mit Lenas Erkrankung und das zunehmende Wissen darüber haben mich gezwungen, auch mich selbst zu verändern. Das ist einer der positiven Lerneffekte im Leben mit einem psychisch Kranken. Das klingt, als ob Lenas Krankheit und meine Auseinandersetzung damit auch ein persönlicher Gewinn seien. Aber insgeheim denke ich oft, dass ich auf diese Erfahrungen
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