Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
gern verzichtet hätte.
Im Juli 2001 beginnt Lena mit einer Ausbildung zur Kosmetikerin. Die Schule macht ihr Spaß, und sie freundet sich schnell wieder mit anderen jungen Frauen an. Sie schminkt mich und hält mir Vorträge über meinen Lipidhaushalt. Meine und ihre Freundinnen müssen sich für Gesichtspflege und Massage zur Verfügung stellen. Nur beginnen auch jetzt nach einiger Zeit wieder ihre aufgeregten Anrufe. Lehrerinnen oder Mitschülerinnen sind Lena zu ruppig oder ihr gar feindlich gesonnen. Jeder kleine Zwischenfall erschüttert ihr Selbstbewusstsein, und ich führe abends lange Gespräche mit ihr, um sie wieder aufzurichten. Lena ist nicht dazu zu bewegen, eine Therapie in Anspruch zu nehmen. Nein, das braucht sie nicht, und dazu hat sie keine Lust. Auch für ihre Wohnung könnte sie eine Hilfe in Anspruch nehmen – die stellt das sozialpsychiatrische System zur Verfügung. Voraussetzung ist aber, dass der Patient einverstanden ist. Und das ist Lena nicht. Nein, sie braucht das alles nicht. Keine Therapeuten, keinen Einzelfallhelfer und keine Hilfe für die Wohnung. Sie hat ja mich.
Wieder muss Lena ins Krankenhaus, aber zu meiner Freude ist sie fest entschlossen, ihre Ausbildung danach zu Ende zu machen. Lena ist oft extrem schüchtern, aber wenn sie sich in einem Thema sicher fühlt, hat sie keine Probleme, vor Publikum zu sprechen oder eine Prüfung zu bestehen.
2002 warte ich wieder mit Herzklopfen und feuchten Händen im Auto vor der Kosmetikschule, bis alles überstanden ist. Sie besteht die Abschlussprüfung und erhält sogar ein besonderes Lob für ihre Leistungen. Lena ist glücklich, und ich bin unendlich stolz auf sie. Wie sie immer wieder versucht, den Anschluss an das normale Leben zu finden, dann von der Krankheit zurückgeworfen wird, aber nicht aufgibt. Ich bewundere Lenas Zähigkeit. Leider ist es nicht einfach, eine Stelle als Kosmetikerin zu bekommen. Trotz mehrerer Praktika besteht für Lena keine Aussicht, angestellt zu werden. Dabei ist das eine Arbeit, die ihr entgegenkommt. Die Kundinnen, vor allem die älteren Damen, lieben sie. Wenn ich sehe, wie süß sie in ihrer weißen Arbeitskleidung aussieht und wie liebenswürdig sie die alten Menschen bedient, bin ich gerührt und muss an die Zeiten denken, in denen sich die gleiche Lena missmutig, unglücklich und aggressiv in ihrem Zimmer verkroch.
Aber wir müssen an die Zukunft denken, Lena ist jetzt 23 Jahre alt und will selbst Geld verdienen. Ich frage mich, wie lange ich wohl in der Lage sein werde, für ihren Unterhalt aufzukommen. Im Juni 2002 lege ich Büro und Wohnung zusammen, um Wege und Kosten zu sparen, und für Lena suchen wir eine separate Wohnung in nicht allzu großer Entfernung. Lena freut sich, die Wohnung wird – wieder einmal – hübsch eingerichtet, und sie fühlt sich dort wohl. Dennoch erleidet sie wieder einen Rückfall, sie kann nicht mehr schlafen, ihre Knie zittern, sie verlässt kaum mehr das Bett, und wieder versinkt ihre Wohnung in Chaos. Eines Nachts bekomme ich um drei Uhr einen Anruf. Eine aufgeregte Lena erklärt mir etwas wirr, sie säße in Neukölln vor einem Döner und habe kein Geld, um nach Hause zu fahren. Sie wisse auch gar nicht, wie sie von Neukölln aus nach Hause käme. Sie sei dort, weil sie zum Tropeninstitut habe fahren wollen, denn im Internet hätte sie gelesen, dass sie vermutlich Malaria habe und eine Spritze brauche. Sie habe das Tropeninstitut aber nicht gefunden. Das Tropeninstitut befindet sich auch gar nicht in Neukölln. Die Vorstellung, dass meine 23-jährige verwirrte Tochter nachts allein in Neukölln vor einem Döner sitzt, behagt mir ganz und gar nicht. Schlaftrunken ziehe ich mich an und fahre so schnell es geht zur angegebenen Adresse. Lena sitzt entspannt auf einer Bank vor dem Dönerladen und kaut. Ob ich ihr auch noch eine Cola kaufen könne, sie habe Durst. Der türkische Besitzer und sein Sohn haben ihr einen Döner geschenkt. Sie hätten sich Sorgen gemacht, sie wäre ja so nett gewesen, aber auch ein bisschen komisch. Ich danke den beiden – Lena hat oft einen Schutzengel gehabt.
Ich kann sie mühsam überzeugen, mit mir in die Klinik zu fahren. Lena schläft tief, als nach einer Stunde ein übernächtigter junger Arzt kommt. Was wir denn wollten, fragt er mich und die langsam aufwachende Lena. Ich habe Hemmungen, meine Vermutung, dass sich wieder ein Schub ankündigt, direkt vor Lena zu äußern. Ich befürchte, dass sie dann empört aufspringen
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