Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
wird und wegläuft. Daher schaue ich den Arzt eindringlich an und sage sehr betont, dass Lena nachts unbedingt zum Tropeninstitut gewollt habe, weil sie meine, an Malaria zu leiden. »Wir sind aber kein Tropeninstitut«, sagt der müde Arzt irritiert. »Das hat jetzt auch gar nicht geöffnet. Da müssen Sie es morgen noch mal versuchen. Hier sind Sie falsch.« Er entschwindet in Richtung Fahrstuhl. Ich hätte ihn umbringen können. Lena will nur noch ins Bett, sie ist satt und müde, und ich setze sie in ihrer Wohnung ab.
Ich schlafe schlecht, weil ich nicht weiß, was die Nacht über mit Lena passiert. Früh am nächsten Morgen erreiche ich die Oberärztin, die sogleich ein Bett für Lena reserviert. Als wir gegen Mittag ins Krankenhaus kommen, wartet ein schlechtgelaunter und nervöser Arzt auf uns. Wo wir denn blieben, er warte seit einer Stunde auf uns. Wir hatten zwar keinen festen Termin ausgemacht, doch ich bleibe ruhig. Aber nicht Lena. Sie hat ein feines Gespür auch für leise Aggressivität. Im Zimmer der Oberärztin kaut der Arzt auf seinem Brillenbügel und schwenkt ihn hin und her. »Sagen Sie mal, sind Sie nervös?«, faucht Lena ihn an. »Das macht einen ja ganz verrückt mit dem Brillengewackel. Dann gehen Sie doch einfach, wenn Sie nervös sind.« Ich versinke in den Boden, bin aber andrerseits stolz auf Lena. Sie traut sich auszusprechen, was ich gerne selbst gesagt hätte. Die Oberärztin schickt den Arzt souverän zu seinem Termin. Lena kann bleiben, muss allerdings auf die geschlossene Station, weil nur dort ein Bett frei ist. Als Lena auf der Abteilung ist, kommt der junge Arzt und erklärt uns, warum er gestern Nacht so reagiert habe. Es täte ihm leid, wenn ich mir deshalb Sorgen gemacht hätte. »Aber«, fügt er hinzu, »ich war gestern Nacht und bin auch heute nicht der Meinung, dass Ihre Tochter im jetzigen Zustand ins Krankenhaus gehört.« Ich selbst bin aber unsicher und vertraue der Oberärztin.
Dieser junge Arzt, mit dem Lena später vergnügt flirtet und den wir den »Malariaarzt« nennen, erweist sich in der Folgezeit als ein besonders kompetenter Psychiater. Er hilft Lena sehr und ist einer der wenigen, der die Patienten zum Lachen bringt. Er scheut sich auch nicht, den Patienten zu erzählen, sie seien letzte Woche mal wieder »knallepsychotisch« gewesen, und er benutzt die Vokabeln »verrückt« und »irre«. Die Patienten lieben ihn. Nie wieder habe ich einen so zugewandten und entspannten Psychiater erlebt. Heute denke ich, dass er recht hatte. Eine gute Versorgung zu Hause wäre für Lena vollkommen ausreichend gewesen.
Mutter und Vorgesetzte – keine gute Kombination
Lena und ich müssen uns eine Alternative zur Kosmetikpraxis überlegen. Schließlich kommen wir auf die Idee, dass Lena bei mir eine Ausbildung zur Bürokauffrau macht. »Das ist doch nicht gut«, sagen Freunde. »Das ist viel zu nah für euch beide, das kann gar nicht gutgehen.« Nein, es ist nicht gut. Aber Schizophrenie ist auch nicht gut, und trotzdem müssen Lena und ich uns damit auseinandersetzen. Erst andere Angehörige bestärken mich. Es sei doch geradezu ein Glücksfall, dass ich diese Möglichkeit hätte, meinen sie. Angehörige von psychisch Kranken wissen, wie es für alle Beteiligten ist, wenn Betroffene monate- oder jahrelang ohne Aufgabe den Tag verbringen müssen. Das ist auch nicht gut. Lena und ich versprechen uns gegenseitig, dass wir dieses Projekt mit Disziplin und Freundlichkeit bewältigen wollen. Im August 2003 wird Lena bei der IHK und der Berufsschule angemeldet und hat nun den Status einer Auszubildenden. Sie ist glücklich. Es gab Jahre, in denen sie immer wieder erklären musste, dass sie nichts tut, weil sie längere Zeit krank war. Mit ihrem Azubi-Status ist Normalität in ihr Leben eingekehrt. Wie andere »normale« Jugendliche kann sie auf die Frage, was sie mache, entspannt antworten: »Ich mache eine Ausbildung zur Bürokauffrau.« Und dann kann sie sich ganz »normal« mit anderen Jugendlichen über Dauer, Qualität der Schule oder Universität oder blöde Lehrer unterhalten. Ich freue mich für sie.
Bei unserer Zusammenarbeit gibt es die Tage, an denen Lena engagiert und mit guten Ideen in unserer kleinen Beratungsfirma arbeitet. Ich höre, wie sie ihren Freundinnen am Telefon erklärt, wie man Lebensläufe schreibt, und was sie tun müssen, um einen Arbeitsplatz zu finden. Und dann gibt es die anderen Tage, an denen ich sie morgens wecken muss, weil sie wieder
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