Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
klingelt, öffne ich nicht. Ihr Wutausbruch ist in allen sieben Stockwerken zu hören. Sie schlägt gegen die Tür und will hereingelassen werden. Die Katzen und ich sitzen zitternd auf dem Sofa und hoffen, dass die Tür standhält. Schließlich zieht sie ab. Ich bin verzweifelt, ich brauche einen Menschen, mit dem ich reden kann. Und Lena braucht dringend ärztliche Hilfe. Ich rufe Lenas Arzt an, zu dem wir beide Vertrauen haben. Ich bin dermaßen aufgeregt, dass die Sprechstundenhilfe sich überreden lässt, ihm meinen Gesprächswunsch mitzuteilen. Wieder am Telefon sagt sie, dass Dr. K. nicht mit mir sprechen wird, das gefährde seine gute Beziehung zu Lena und verstoße außerdem gegen die ärztliche Schweigepflicht. Ich kann es nicht glauben. Er muss doch etwas tun, er ist doch ihr Arzt! Er weiß doch gar nicht, wie schlecht es ihr geht. Inzwischen ist es mir gleichgültig, ob ich seinen Unmut errege, und insistiere so lange, bis mir endlich sein Anruf in Aussicht gestellt wird. Am Abend ruft er an. In dem kurzen Gespräch bringe ich meine große Sorge zum Ausdruck, aber er erklärt, dass er nichts tun kann. Er sei zwar auch der Meinung, dass Lena in ihrem jetzigen Zustand besser ins Krankenhaus ginge. Er könne das auch versuchen, aber das bekäme er bei keinem Gericht durch! Das verstehe ich nicht. Der Psychiater hält eine Krankenhausbehandlung eines Patienten für erforderlich und vor Gericht »kommt er damit nicht durch«? Das höre ich zum ersten Mal und kann es nicht fassen. Leider fange ich an zu schluchzen. »Sie müssen sich nun aber endlich mal von Ihrer Tochter lösen!«, kommt der gereizte Kommentar von Dr. K. Ich hänge auf. Er hat sicher recht. Ich sollte mich lösen, mich abgrenzen. Aber gibt es eine Gebrauchsanleitung für diese Ablösung? Wie löse ich mich, wenn ich panisch vor Angst bin und nicht weiß, was mit meiner Tochter noch alles geschehen kann? Wie soll ich mich lösen von einem Menschen, der sich verstörend verhält, vor Angst schreit, Hunger hat, dem man ansieht, wie sehr ihn die Sucht nach Nikotin quält?
Die ärztliche Schweigepflicht als Bollwerk gegen uns Angehörige
Die ärztliche Schweigepflicht war bis zu diesem Zeitpunkt nur ein vager Begriff für mich. Was ich davon wusste, hielt ich für richtig. Natürlich darf ein Arzt nicht jedem erzählen, was er über seinen Patienten weiß. Aber nun erfahre ich, dass der Arzt nicht einmal mit mir reden darf, wenn ich ihm berichten will, wie schlecht es meiner Tochter geht. Er kann nichts über den Zustand seiner psychisch kranken Patientin wissen, weil sie krankheitsbedingt nicht zu ihm kommt. In einem solchen Fall müssten doch die Informationen eines Angehörigen oder Freundes wichtig sein. Dennoch will er nicht mit mir sprechen? Ich kann es nicht glauben.
Aber tatsächlich darf ein Arzt nicht mit mir als Mutter sprechen, wenn er nicht die schriftliche Einwilligung seiner volljährigen Patientin hat. Sollte er dann nicht gleich zu Beginn der Behandlung darauf hinweisen und Eltern und Kind bitten, eine schriftliche Einwilligung abzufassen, wenn die Tochter oder der Sohn einverstanden sind? Lena sagte mir, dass sie ihrem Arzt gegenüber oft gesagt hätte, dass sie damit einverstanden sei. Nur haben wir versäumt, das in einer gesunden Phase schriftlich festzuhalten. Es ist ein Schock, festzustellen, dass ich als Mutter in einer Krisenphase von Lena überall gegen Mauern laufe. Wenn ein Arzt nicht mit mir sprechen will oder darf, müsste er dann nicht nach seiner Patientin fahnden , wenn sie mehrfach nicht erscheint? Es müsste doch Einrichtungen geben, die sich dafür interessieren, wie es Menschen geht, die mehrfach in psychiatrischer Behandlung waren. Bei denen man weiß, dass es ein schlechtes Zeichen sein kann, wenn sie sich bei ihrem Arzt nicht mehr melden. Institutionen oder Personen, die aktiv werden können, wenn ein Patient aus dem Netz fällt. Aber langsam muss ich begreifen, dass niemand mit Lena Kontakt aufnehmen oder zu ihr gehen wird. Wenn sie mich nicht hätte, was würde dann mit ihr passieren?
Es leuchtet mir ein, dass ein Vertrauensverhältnis für eine gute therapeutische Beziehung extrem wichtig ist. Ich kann auch verstehen, dass Patienten befürchten, dass Eltern oder Lebenspartner dem Arzt etwas erzählen könnten, was sie nicht möchten. Natürlich entspricht das, was Eltern über ihre Kinder erzählen, nicht immer der »Wahrheit«, ebenso wie das, was die erkrankten Kinder über uns erzählen, nicht
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