Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Tochter, die noch vor kurzem so unglücklich und aggressiv war?
Schizophreniekonferenz in Indien
Ich habe das Glück, in Chennai zu einer internationalen Schizophrenie-Konferenz eingeladen zu sein, bei der ich etwas über die Situation von Angehörigen in Deutschland berichten darf. Es ist beeindruckend, von internationalen Wissenschaftlern über die neuesten Ergebnisse der Schizophrenieforschung informiert zu werden, auch wenn ihre Erkenntnisse nicht viel Grund zur Hoffnung geben. Erschreckend sind Berichte, wie in Indien vor allem in der Landbevölkerung psychisch Kranke behandelt werden. Nicht selten müssen Psychiater in den Kliniken erst schwere Eisenketten von den Füßen der Patienten entfernen.
Lena kommt mir auf diesem Kongress ständig abhanden. Ich suche sie beim Buffet, bei den Vorträgen, bei Filmen. In ihrer neuen indischen Kleidung fällt sie mit ihrem dicken schwarzen Zopf unter den vielen Inderinnen nicht auf. Manche der Wissenschaftlerinnen sind überrascht, wenn ich ihnen von hinten meinen Arm um die Schultern lege und sie auf Deutsch anspreche.
Interessant ist, dass nach meinem Vortrag ein Zuhörer aufsteht und sagt, dass ich nur das Wort »Deutschland« gegen das Wort »Indien« austzutauschen bräuchte, denn das Gesagte treffe genau so auch auf Indien zu. Alle im Saal klatschen zustimmend. Und ebenso interessant und bezeichnend ist es, dass bei der Ankündigung des thematischen Blocks »Angehörige« die Mehrzahl der Psychiater eilig aufsteht und schnell den Saal verlässt. Auch da scheint es eine große Übereinstimmung zwischen Indien und Deutschland zu geben.
Lena und ich genießen Indien. Es ist eine wunderbare Zeit mit ihr. Wir lieben das Klima, das Essen und die schönen Menschen und finden es herrlich, Rikscha zu fahren. Sie lernt einige indische Worte und bezaubert Inder, die sich interessiert danach erkundigen, wer ich denn sei. »This is my mum!«, verkündet Lena jedes Mal strahlend. Ungläubige Blicke in meine Richtung, wackelnde Hälse und engagierte Diskussion untereinander. Dann richten sich alle Blicke auf mich: »Adopted?«
Wir sind traurig, als wir wieder zurückfliegen müssen – wir wären gern noch geblieben. Meine geheime Angst, dass Lena während unserer Reise einen Rückfall erleiden könnte, hat sich nicht erfüllt. Zwei Jahre später erzählt mir Lena, dass auch sie Angst davor hatte.
Das Attentat in Mumbai
Am 15. November 2008 kommen wir aus Indien zurück. Am 26. November schießen pakistanische Terroristen in Mumbai drei Tage lang wahllos auf Menschen in einem Hotel und in der Innenstadt. CNN berichtet Tag und Nacht.
Lena arbeitet seit zehn Tagen wieder bei der Versicherungsgesellschaft. Einen Tag vor dem Attentat erzählt sie mir stolz, dass ihr ein fester Vertrag angeboten wurde. Ob ich vorbeikommen könnte, um ihn mit ihr durchzusehen? Wir verabreden uns für das Wochenende. Am Freitag ruft sie mich aufgeregt an und erzählt eine wirre Geschichte über Kolleginnen, die unfreundlich seien, und über das Attentat, das sie die ganze Nacht lang im Fernsehen verfolgt habe. Es sei so furchtbar, sagt sie, sie weint. Wir reden eine Weile, und sie wird wieder ruhiger. Am Samstag fahre ich zu ihr, und sie zeigt mir ihren Vertrag. Schon als ich ihre Wohnung sehe, weiß ich, in welchem Zustand Lena ist. Es herrscht ein unvorstellbares Chaos. Ein unausgepackter Koffer steht im Eingang, ein anderer liegt am Boden, Hosen, T-Shirts, Bücher und Kosmetikartikel sind durch die ganze Wohnung verstreut. Lena ist nervös, verhaspelt sich und findet den Vertrag nicht. Als sie ihn schließlich aus einem Bündel von Kleidung herauszieht, wird mir heiß vor Schreck. Der Vertrag ist auf jeder Seite mit unentzifferbarem Gekrakel und farbigen Markerstrichen überzogen.
In dem Film »A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn« geht die Ehefrau des an Schizophrenie erkrankten Mathematikers John Nash in einen Schuppen, in dem ihr Mann – wie sie glaubt – an einem Projekt arbeitet. Sie ist fassungslos, als sie die Tür öffnet. Wände und Tische sind bedeckt mit einem unvorstellbaren Gewirr von Zetteln, Zeichnungen, Fotos, die ein merkwürdiges Muster ergeben. Man kann den Wahnsinn sehen . Der Kranke bringt das Chaos in seinem Kopf in die Realität.
Ich hole tief Luft und beginne, ruhig mit Lena über den Vertrag zu sprechen. Es ist bereits schwierig, eine zusammenhängende Unterhaltung mit ihr zu führen. Sie redet immer wieder von Mumbai, und sie hat Angst. »Stell dir vor,
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