Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
aus dem Krankenhaus sich oft verspätet, wenn sie mit Lena verabredet ist. Lena macht das wütend. Ich erinnere mich an die Worte der Ärztin über meine Unpünktlichkeit. Lena fühlt sich durch die Unpünktlichkeit nicht ernst genommen. Vollends wütend wird sie, als ihr Geld nicht termingemäß ausgezahlt wird. Sie empfindet es als zutiefst ungerecht, wenn Abmachungen nicht eingehalten werden. Sie muss über einen Monat warten, bis sie endlich ihren Lohn ausgezahlt bekommt. Jemand hatte vergessen, den Zettel auszufüllen, die Person, die unterschreiben muss, war gerade nicht da. Das sind alles Kleinigkeiten, die im Arbeitsleben vorkommen können. Aber bei Lenas dünner Haut wird jedes dieser Ärgernisse zu einer unerträglichen Belastung für sie. Vor allem aber bestärken diese Unachtsamkeiten sie in ihrer Neigung, eine einmalige Erfahrung auf alle anderen ähnlichen Situationen zu übertragen. Damit wird sie um die Möglichkeit gebracht, neue Erfahrungen zu machen. Nie wieder wird sie in einem Kinoprojekt arbeiten …, nie wieder wird sie eine Arbeitstherapie machen …, nie wieder.
Ihr Chef ist überrascht, dass Lena die angebotene Verlängerung des Vertrages ablehnt. Er war zufrieden mit ihr und hat ihre Irritation nicht bemerkt. Ich kann mir vorstellen, dass anderen Psychiatrieerfahrenen eine lockere Atmosphäre, in der man sich unterhalten kann und nicht auf Zeiten geachtet wird, entgegenkommt. Lena ist nicht so sehr auf der Suche nach Wärme am Arbeitsplatz, sondern sie möchte eine Aufgabe, an der sie sich beweisen kann. Und sie empfindet jede Nichteinhaltung einer Vereinbarung als unerträglich. Ich bedaure, dass sie nicht dort bleiben möchte, vielleicht hätte sie sich nach einer Weile dort sicherer und akzeptierter gefühlt.
Wieder von vorne
Wieder sitzt Lena allein zu Hause vor dem Fernseher und raucht. Es geht ihr nicht gut. Manchmal weint sie oder schreit. Aus dem System ist sie wieder herausgefallen, da sie die Arbeitstherapie nicht verlängert hat. Niemand ist mehr für sie zuständig. Das Krankenhaus nicht, sozialpsychiatrische Dienste nicht, Psychiater, Psychotherapeuten und Betreuerin nicht. Sie alle würden etwas tun, wenn Lena zu ihnen käme und um Hilfe bäte. Aber das tut Lena nicht, weil sie es nicht kann. Und weil sie weiß, dass es letztlich immer auf einen Krankenhausaufenthalt hinausläuft. Auf Medikamente, die sie nicht nehmen will, weil sie davon so dick und apathisch wird.
Die Anrufe von Lenas Nachbarin werden immer dringlicher. Sie müsse immer häufiger die Polizei oder Einrichtungen für psychisch Kranke kontaktieren. Aber weder diese noch die Polizei können etwas tun. Lenas Hausverwaltung ruft an und bittet mich, etwas zu unternehmen, andernfalls müssten sie Lena fristlos kündigen. Aber was soll ich bloß tun? Auch die Betreuerin hat bereits mehrere Abmahnungen erhalten.
Im September 2010 ruft Lena schluchzend an, weil sie eine fristlose Kündigung bekommen hat. Die inzwischen nicht mehr freundliche Nachbarin hat im Haus erfolgreich Unterschriften gegen sie gesammelt. Ich fahre sofort zu ihr, um sie zu beruhigen. Sie zittert am ganzen Leib, weint, ist laut und aufgeregt.
Ich kann nichts anderes tun, als sofort mit der Wohnungssuche zu beginnen, denn ich will mich nicht auf die beruhigenden Worte der Betreuerin verlassen, die der Meinung ist, dass die Hausverwaltung mit dieser Kündigung nicht durchkäme. Und Lena will ohnehin nicht mehr dort bleiben, selbst wenn die Kündigung auf dem Klageweg zurückgenommen würde. Sie spürt die Ablehnung der Nachbarn und hat Angst, ihnen im Flur zu begegnen. Bei der Suche mache ich deprimierende Erfahrungen. Für Menschen, die Hartz IV beziehen, ist es äußerst schwierig, eine Wohnung zu bekommen. »Nein, mein Chef vermietet niemals an Hartz-IV-Empfänger«, höre ich. »Solche Menschen wollen wir nicht im Haus haben.« Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, was ihr Chef sagen würde, wenn ich Lenas psychische Erkrankung erwähnte. Kleine, bezahlbare Wohnungen gibt es nicht viele, vor allem, wenn man in einem bestimmten Viertel von Berlin wohnen will. Und jeder psychisch Kranke und auch jeder Angehörige in Berlin weiß, wie wichtig es ist, im richtigen Viertel zu wohnen. Davon ist abhängig, in welche Klinik der Patient gebracht wird und welche Institutionen für ihn zuständig sind. Nur wenn ein psychisch Kranker freiwillig ins Krankenhaus geht, kann er sich auch an eine Klinik in einem anderen Bezirk wenden.
Die Wohnungsmiete
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