Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
getan habe.« Sie blickte den Flur auf und ab, in ihren niedergeschlagenen Augen schimmerten Tränen. »Verdammt. Es waren mehr als hundert Dollar drin.«
Ich dachte an Alison. Sie war hier gewesen, als der Feueralarm losgegangen und der Schwesterntresen vorübergehend unbesetzt gewesen war. Und als sich alles wieder beruhigt hatte, war sie verschwunden. War es möglich, dass sie Carolines Portemonnaie genommen hatte?
Warum kam mir dieser Gedanke überhaupt?
Viel logischer war es anzunehmen, dass Caroline ihr Portemonnaie in der Cafeteria hatte liegen lassen. »Warum rufst du nicht mal unten an?«, riet ich ihr, während ich alle Schubladen durchging, jedes kleine Fach hinter dem Schreibtisch durchwühlte und zuletzt meine eigene Handtasche überprüfte, um mich zu vergewissern, dass nichts fehlte.
»Ich rufe die Cafeteria an«, nahm Caroline meinen Rat widerwillig an, »aber ich weiß, dass es dort nicht ist. Irgendwer hat es gestohlen. Irgendwer hat es gestohlen.«
6
Am Samstagabend kam ich gerade aus der Dusche, als das Telefon klingelte. Ich wickelte mich in ein großes weißes Badelaken, warf ein zweites über die Schulter und tapste zu dem Telefon in meinem Schlafzimmer, wobei ich mich fragte, ob es Alison war, die unsere Verabredung absagen wollte. Ich nahm ab und strich mir die nassen Haare von der Wange. »Hallo?«
»Ich möchte Erica Hollander sprechen«, erklärte eine männliche Stimme ohne jede Vorrede.
Es dauerte eine halbe Sekunde, bis der Name in meinem Gehirn ankam. »Erica Hollander ist nicht mehr meine Mieterin«, erwiderte ich kühl. Mein Blick folgte den Tropfen, die in kleinen Rinnsalen über meine Beine auf den beigefarbenen Teppich flossen, und so als gäbe es im Inneren meines Körpers ein Echo darauf, durchströmte mich ein Gefühl von Angst.
»Wissen Sie, wie ich sie erreichen kann?« In der Stimme schwang ein leichter Südstaatenakzent mit, aber sie kam mir nicht bekannt vor.
»Ich fürchte, ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«
»Wann ist sie denn bei Ihnen ausgezogen?«
Ich überlegte, wann ich Erica zum letzten Mal gesehen hatte. »Das war Ende August.«
»Und sie hat keine Nachsendeadresse hinterlassen.«
»Sie hat gar nichts hinterlassen, auch nicht die zwei Monatsmieten, die sie mir noch schuldet. Wer ist denn da?«
Als Antwort hörte ich ein lautes Klicken.
Ich legte den Hörer auf, ließ mich aufs Bett sinken und atmete ein paarmal tief durch, während ich versuchte, die unangenehmen Erinnerungen an Erica Hollander zu verdrängen. Doch abwesend war sie ebenso hartnäckig, wie sie es anwesend gewesen war, und sie ließ sich nicht so einfach abwimmeln.
Erica Hollander war jung wie Alison und groß und geschmeidig wie Alison, aber eben nicht ganz so hochgewachsen und biegsam. Sie hatte volles, dunkelbraunes, schulterlanges Haar, das sie ständig von einer Seite auf die andere warf, wie man es in diesen ärgerlichen Werbespots sieht, wo ein gutes Shampoo mit einem guten Orgasmus gleichgesetzt wird. Ihr Gesicht jedoch, das in vorteilhaftem Licht durchaus hübsch wirken konnte, balancierte gefährlich auf der Grenze zum Gewöhnlichen. Es war allein ihre lange, dünne Nase mit dem unvermittelten Linksdrall, die ihm überhaupt Charakter verlieh, ihr einziger markanter Zug, und natürlich hasste sie sie. »Ich spare auf eine Operation«, hatte sie mir mehr als einmal erklärt.
»Deine Nase ist wunderschön«, hatte ich ihr – ganz Glucke – versichert.
»Sie ist furchtbar, ich spare, um sie richten zu lassen.«
Ich hatte ihrem Lamento über ihre Nase zugehört, mir die Prahlerei über ihren Freund angehört – »Charlie sieht so gut aus, Charlie ist so intelligent« -, der für ein Jahr in Tokio arbeitete, ich hatte ihr zugehört, als sie mit dem Angeben aufhörte und zu jammern anfing – »Charlie hat diese Woche gar nicht angerufen, Charlie sollte sich lieber in Acht nehmen« -, und mich auch jedes Urteils enthalten, als sie etwas mit einem Typen anfing, den sie im Elmwood’s getroffen hatte, einer bekannten Motorradkneipe in der Atlantic Avenue. Ich hatte ihr sogar Geld geliehen, um sich einen gebrauchten Laptop zu kaufen. Alles, weil ich dachte, wir wären Freundinnen. Auf den Gedanken, dass sie eines Nachts
einfach verschwinden könnte, obwohl sie mir noch immer Geld für den Computer schuldete, von mehreren Monaten Mietrückstand ganz zu schweigen, war ich nicht gekommen.
Der intelligente, gut aussehende Charlie in Tokio wollte nicht akzeptieren, dass
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