Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
seine Freundin ihn ebenso unzeremoniell hatte sitzen lassen wie mich, und hatte mich mit unangenehmen Telefonaten aus Tokio bombardiert, in denen er ihren Aufenthaltsort zu erfahren verlangte. Er hatte sogar die Polizei benachrichtigt, die meine Geschichte bestätigte, was ihn jedoch offenbar immer noch nicht zufrieden stellte. Er belästigte mich weiter mit Ferngesprächen, bis ich drohte, seinen Arbeitgeber darüber zu informiere. Danach hatten die Anrufe plötzlich aufgehört.
Bis heute Abend.
Kopfschüttelnd stellte ich fest, dass Erica Hollander mir auch drei Monate nach ihrem Verschwinden noch Kummer bereitete. Sie war meine erste Mieterin gewesen, und nachdem sie abgehauen war, hatte ich mir geschworen, dass sie auch die Letzte bleiben sollte.
Was hatte mich bewogen, meine Meinung zu ändern?
Ehrlich gesagt vermisste ich die Gesellschaft. Ich habe nicht viele Freunde. Natürlich sind da meine Kolleginnen Margot und Caroline, doch außerhalb des Krankenhauses treffen wir uns selten. Caroline hat einen anspruchsvollen Ehemann und Margot vier Kinder, um die sie sich kümmern muss. Außerdem bin ich schon immer ein wenig zurückhaltend gewesen. Diese Schüchternheit in Verbindung mit meiner Neigung, mich in die Arbeit zu stürzen, hat es mir schwer gemacht, Menschen kennen zu lernen. Die lange Krankheit meiner Mutter vor ihrem Tod nicht zu vergessen. Und neben der Pflege meiner Patienten und der Pflege meiner Mutter zu Hause, nun ja … Der Tag hat eben nur vierundzwanzig Stunden.
Außerdem passiert in unserer Gesellschaft schleichend etwas
Heimtückisches mit Frauen, wenn sie vierzig werden, vor allem wenn sie unverheiratet sind. Wir verlieren uns in einem dichten, frei schwebenden Nebel. Es wird zunehmend schwieriger, uns zu sehen. Die Leute wissen schon, dass wir da sind, man sieht uns bloß ein wenig unscharf, vor allem an den Rändern, sodass wir anfangen, mit dem Hintergrund zu verschwimmen. Wir sind nicht direkt unsichtbar – die Leute gehen uns noch aus dem Weg, um nicht mit uns zusammenzustoßen -, doch in Wahrheit werden wir nicht länger gesehen . Und wenn man nicht gesehen wird, wird man auch nicht gehört.
So und nicht anders sieht es aus für Frauen über vierzig.
Wir verlieren unsere Stimme.
Vielleicht wirken wir deshalb so wütend. Vielleicht liegt es gar nicht an den Hormonen. Vielleicht wollen wir bloß, dass uns jemand beachtet.
Jedenfalls dachte ich daran, wie nett es anfangs gewesen war, nachdem Erica Hollander eingezogen war, wie angenehm und lustig, jemanden um sich zu haben, auch wenn wir uns gar nicht so häufig sahen. Wie auch immer. Irgendwie gab mir die bloße Tatsache, dass jemand dasselbe Grundstück bewohnte wie ich, das Gefühl, weniger einsam zu sein. Also beschloss ich, es noch einmal zu versuchen. Was sagt man noch über die zweite Ehe? Ein Triumph der Hoffnung über die Erfahrung?
Auf keinen Fall jedoch wollte ich noch einmal dieselben Fehler machen und hatte mich deswegen auch dagegen entschieden, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, sondern stattdessen mehrere unscheinbare Zettel rund um das Krankenhaus ausgehängt, von denen sich, wie ich glaubte, eher ältere und verantwortungsbewusstere Menschen angesprochen fühlen würden. Vielleicht sogar eine berufstätige Frau wie ich.
Stattdessen hatte ich Alison bekommen.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Ich spürte den kalten Zug der Lüftung in meinem Nacken wie den kühlen Atem eines Geliebten und erschauderte.
»Hi, ich bin’s«, zwitscherte Alison, als ich den Hörer abnahm. »Hast du mich nicht klopfen hören?«
Als ich aufstand, löste sich das Handtuch um meine Brüste und fiel auf den Boden. »Was? Nein. Wo bist du?«
»Ich stehe vor deiner Küchentür. Ich rufe dich von meinem Handy aus an. Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Ich bin nur ein bisschen spät dran. Kann ich dich in zehn Minuten abholen?«
»Kein Problem.«
Ich wickelte das Handtuch wieder um, trat ans Fenster und sah durch die weißen Spitzengardinen, wie Alison zu dem Gartenhaus zurückschlenderte. Sie trug ein hautenges dunkelblaues Kleid, das meiner Erinnerung nach neulich noch nicht in ihrem Kleiderschrank gehangen hatte, dazu ihre silbernen Sling-Pumps, in denen zu laufen ihr offenbar keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Ich beobachtete, wie sie ihr Handy in der silbernen Handtasche verstaute, die von ihrer Schulter baumelte, um es sofort wieder herauszuziehen, wobei mehrere lose Geldscheine
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