Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
Wenn ich nicht weiß, was es bedeutet, schreibe ich es heraus und lerne die Definition auswendig.«
»Zum Beispiel?«
»Nun, lass mich überlegen. Heute habe ich drei sehr interessante Wörter gelernt: Indigen, was so viel heißt wie eingeboren, einheimisch. Das ist das erste. Dann Epiphanie, was mich echt geschockt hat, weil ich dachte, ich wüsste, was es bedeutet, aber total daneben lag. Wirklich total daneben. Weißt du, was es bedeutet?«
»Eine Art Erleuchtung oder Offenbarung«, presste ich zwischen meinen Lippen hervor, eine Anstrengung, die meine gesamte Konzentration erforderte.
»Richtig, eine Epiphanie ist ›das plötzliche Sichtbarwerden einer Gottheit oder das Erscheinen eines als Gott verehrten Herrschers‹«, zitierte sie und hielt inne. Ich spürte förmlich, wie sie den Kopf schüttelte. »Willst du wissen, was ich dachte, was es bedeutet?«
Ich nickte vorsichtig, um die Gurkenscheiben auf meinen Augen nicht ins Rutschen zu bringen.
»Versprichst du mir, nicht zu lachen.«
Ich grunzte. Selbst wenn ich es versucht hätte, hätte ich wohl kaum lachen können.
»Also, ich hab als Kind mal einen Film im Fernsehen gesehen, der von einem Mann handelte, der sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund in ein Huhn verwandelt hat. Und der Film hieß Epiphany . Deshalb dachte ich, eine Epiphanie ist, wenn jemand sich in ein Huhn verwandelt. Mit diesem festen Glauben bin ich aufgewachsen. Mein
Gott, stell dir mal vor, ich hätte versucht, das in einem Gespräch anzubringen.«
Ich schüttelte den Kopf, wenn gleich sehr vorsichtig. Sie hatte etwas so Verletzliches, etwas so ungeheuer Empfindliches, als würde sie mit blank liegenden Nerven neben mir sitzen. Ich wünschte, ich könnte sie in die Arme nehmen und das zu groß geratene Kind, das sie in Wahrheit war, trösten. Stattdessen fragte ich: »Und das dritte Wort?«
»Metopen. Das sind die flachen, annähernd quadratischen Platten zwischen zwei Triglyphen.«
»Und was ist ein Triglyph?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie lachend. »Ich lerne pro Tag nur drei neue Wörter. Jetzt haben wir aber genug geredet. Ich möchte, dass du dich einfach entspannst und es genießt, dich verwöhnen zu lassen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du dich selbst viel zu selten verwöhnst.«
Sie hatte Recht. Verwöhnt zu werden war neu für mich. Ich hatte mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, erst in der Schule, dann in dem von mir gewählten Beruf und sogar zu Hause, wo ich meine Mutter pflegen musste. In gewisser Weise war ich froh, dass mir nicht alles zugefallen war und mich meine Mutter nicht verwöhnt hatte. Denn das hatte mich nicht nur dankbarer für das, was ich hatte, sondern auch sensibler und fürsorglicher anderen gegenüber gemacht.
»Okay«, sagte Alison. »Während die Maske aushärtet, fange ich mit deiner Pediküre an. Ich bin sofort wieder da. Atme tief ein und aus, und entspann dich am ganzen Körper.«
Plötzliche Stille senkte sich über den Raum. Ich hörte sie in der Küche herumklappern. Was machte sie nur, fragte ich mich erneut und atmete einmal, zweimal tief ein und wieder aus und spürte, wie die Anspannung des Tages langsam von mir abfiel.
»Du hast wirklich kräftige Zehennägel.« Plötzlich zupfte Alison am großen Zeh meines rechten Fußes.
Ich hatte sie nicht ins Zimmer kommen hören. War es möglich, dass ich eingeschlafen war? Und wenn ja, wie lange?
»Ich schneide dir jetzt die Nägel, also, wenn’s geht, nicht bewegen.«
Meine Zehen zappelten unter ihrer Berührung.
»Nicht bewegen«, ermahnte sie mich noch einmal.
Ich hörte das Klicken der Nagelschere, während ihre Finger geübt von einem Zeh zum anderen wanderte. Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen , ging es mir durch den Kopf, doch dann konnte ich mich nicht mehr erinnern, was der Zeigefinger macht.
»Jetzt kommt das Beste«, verkündete sie und begann, meine müden Füße sanft zu massieren. Aprikosenduft wehte mir in die Nase. »Fühlt sich gut an, was?«
»Fühlt sich wundervoll an«, bestätigte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, dass ich die Worte laut gesagt hatte.
»Also wirklich, Terry Painter, ich glaube, langsam fängst du an, das alles richtig zu genießen.«
Ich nickte, versuchte zu lächeln und spürte die kleinen Risse um meinen Mundwinkel, als ob mein Gesicht versteinert wäre.
»Mein Mann war wirklich fantastisch in Fußmassagen«, sagte Alison, und an ihrem versonnen Ton erkannte ich, dass sie mehr mit sich selbst als mit
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