Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Ding«, sagte sie. »Ich mache mir solche Vorwürfe. Wäre ich nur hartnäckiger gewesen. Ich wusste ja, da stimmt was nicht. Aber dann bin ich nicht gleich zum Sicherheitsmann gegangen, sondern zuerst zum Fleischer, und als ich mich schließlich drum gekümmert habe, war das Auto weg. Ich mache mir wirklich Vorwürfe.«
»Das brauchen Sie aber nicht«, sagte Böttger. »Was genau haben Sie auf dem Parkplatz denn gesehen?«
»Na, dieses Kind von dem Phantombild. Es hockte auf dem Rücksitz in diesem Kombi. War völlig verdreckt und kaute auf einer leeren Zigarettenschachtel herum. Es war ja unerträglich heiß an diesem Tag, und dann stand das Auto auch noch mitten in der Sonne. Ich habe mich zum offenen Fenster vorgebeugt und gefragt: ›Wo ist denn deine Mama? Ist die einkaufen?‹ Aber das Kind hat mich angesehen, als würde es mich gar nicht verstehen. ›Bist du schon lange hier alleine im Auto?‹, habe ich gefragt. Aber wieder nichts. Ich hatte allerdings nicht den Eindruck, dass ich ihm Angst gemacht hätte oder so. Vielmehr war es, als würde es nicht verstehen, was ich sage. Ich habe auf ein anderes Auto gezeigt, das war knallrot, und gefragt: ›Welche Farbe hat das Auto?‹ Das Kind hat mich weiter mit großen Augen angeschaut, und dann hat es gesagt: ›Blau.‹«
»Es konnte also sprechen. Und es sprach deutsch.«
»Aber es hat völligen Irrsinn geredet.«
»Vielleicht wegen der Hitze«, sagte Böttger.
»Ich weiß nicht, gut möglich. Irgendwas stimmte da nicht.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Aber wer konnte schon mit so etwas rechnen? Hätte ich das nur geahnt, dann wäre ich direkt zum Sicherheitsdienst gelaufen. Vielleicht würde das kleine Ding dann jetzt noch leben.«
Innerhalb von Stunden waren eine Reihe weiterer Aussagen dazugekommen. Immer mehr Fähnchen wurden in die Landkarte gesteckt. Zwei Zeugen wollten das unbekannte Kind in einem McDonald’s in Paderborn gesehen haben. Andere in einer KiK-Filiale in Bielefeld. Schließlich war es auf einem Spielplatz in der Nähe von Marienbüren gesichtet worden. Die Fähnchen markierten einen recht übersichtlichen Bereich auf der Karte. Und im Zentrum dieses Bereichs befand sich der Ort Marienbüren.
Vielleicht stammte das Kind tatsächlich von dort. Es wäre nicht weit von seinem Zuhause begraben worden. Eine Affekttat wäre denkbar, wonach das Kind bei Nacht und Nebel eilig hatte verscharrt werden müssen.
Jens Böttger betrachtete nachdenklich die Karte. Er fixierte die Fähnchen, als lägen in ihrer Aufstellung weitere Hinweise verborgen.
»Seltsam, das Ganze, nicht wahr?«
Das war Harald Hochbohm, der hinter ihm am Gruppentisch saß. Die morgendliche Teambesprechung war vorüber, die meisten Kollegen im Außeneinsatz, und Ruhe war im Präsidium eingekehrt. Harald, der die Akten für den Fall führte und dessen Arbeit darin bestand, Berichte zu sammeln und auszuwerten, war als Einziger aus dem Team im Präsidium geblieben. Zu zweit betrachteten sie die Pinnwände und den Pappaufsteller, an denen Fotos, Beweismittel und Landkarten aufgehängt waren. Harald folgte Böttgers Blick zu dem abgesteckten Bereich auf der Karte.
»Was findest du seltsam?«, fragte Böttger.
»Marienbüren ist ein kleiner Ort. Schwer zu glauben, dass ein Kind dort gelebt hat, ohne bemerkt worden zu sein. Kindergarten, Krabbelgruppe, Eltern, Nachbarn. Da ist man doch sozial eingebunden. Aber nichts. Nirgendwo ist es aufgetaucht. Nur irgendwelche Passanten melden sich. Zufällige Beobachter, mehr nicht.«
»Ja, du hast recht. Das ist wirklich merkwürdig. Wenn die Eltern tatsächlich in der Gegend leben sollten, müssen sie Kontakte zu Nachbarn meiden. Und eher außerhalb wohnen, schätze ich. Vielleicht auf einem Bauernhof.«
»Trotzdem merkwürdig, das Ganze.«
»Ich fahre gleich raus und treffe mich mit dem Dorfsheriff. Vielleicht hat der eine Idee. Der kennt ja seine Pappenheimer.«
Es würde nicht lange dauern, bis sie die Eltern gefunden hätten, davon war Böttger überzeugt. Selbst, wenn der Polizeichef vor Ort keine Ideen hatte. Die Kollegen waren in der Umgebung von Marienbüren unterwegs, um gezielt die Bewohner zu befragen. Sie hatten nun den Bereich eingegrenzt, also gingen sie von Tür zu Tür und klapperten alles ab.
»Wenn wir die Eltern erst gefunden haben, sind wir einen Riesenschritt weiter«, meinte er.
»Na ja. Dann haben wir zumindest die Hauptverdächtigen.«
Böttger nickte. »Sie müssen einen Grund dafür gehabt haben,
Weitere Kostenlose Bücher