Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt war, hatte die Tür sperrangelweit offen gestanden, und Jakob war fort gewesen. Wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich hatte er den Streit draußen mitbekommen und sich davongemacht, um Sanna nicht zur Last zu fallen. Was immer auch der Grund für sein Verschwinden war, er tauchte nicht mehr auf. Auch im Stift Marienbüren hatte er sich nicht mehr sehen lassen. Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Sanna fiel es schwer, das zu akzeptieren. Sie hätte ihm eine sichere Zuflucht geboten. Wenigstens für ein paar Tage.
Sie betrat das Hauptgebäude. Auch hier war es überall still. Für den Moment konzentrierte sich das ganze Leben im Speisesaal. Sanna nahm die Abkürzung durch den Kreuzgang. Vorbei an steinernen Säulen und an Heiligenfiguren. Die Geräusche ihrer Schritte hallten im Gewölbe wider. Plötzlich hörte sie fremde Absätze auf dem Steinboden. Ein Schatten bewegte sich an der weiß getünchten Wand, und im nächsten Moment tauchte Erika Eckart hinter einer Säule auf.
Als sie Sanna entdeckte, hellte sich ihr Gesicht auf.
»Hallo, Frau Marquart.« Ihre Stimme hallte durchs Gewölbe. »Beeilen Sie sich lieber, sonst ist der Nachtisch weg. Es gibt Vanilleeis mit heißen Früchten. Alle stürzen sich drauf, da sollte man besser nicht zu spät kommen.«
Sie lächelte. »Das werde ich mir für die Zukunft merken.« Der Nachtisch war ihr heute jedoch egal. »Sagen Sie, Frau Eckart, gibt es schon etwas Neues über den Einbruch?«
»Nein. Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die Polizei den Kerl noch findet. Er hat ja überhaupt keine brauchbaren Spuren hinterlassen.«
»Seltsam, oder? Wie kommt ein Dieb ausgerechnet auf die Idee, hier draußen zuzuschlagen? Hier bei uns in dieser Abgeschiedenheit?«
»Eine ziemlich dreiste Idee, wenn Sie mich fragen. Es sind ja immer Bewohner auf dem Gelände. Die Polizei sagte, es wird regelmäßig in sozialen Einrichtungen eingebrochen. Kindergärten, Schulen, Jugendzentren. Das wäre ganz normal. Aber hier draußen? Die Vorstellung, dass sich ein Fremder hier frei auf dem Gelände bewegen kann, ohne dass es weiter auffällt, ist schon unheimlich, oder?«
Erneut hallten Schritte durch den Gewölbegang. Doch sie entfernten sich, wurden leiser und verstummten schließlich. Das Quietschen einer Tür war zu hören, dann waren sie wieder allein.
»Er hat in den Aktenschränken gewühlt«, sagte Sanna. »In aller Ruhe. Als wären die Unterlagen das Wichtigste.«
»Er wusste wahrscheinlich nicht, dass in den Schränken nur Akten sind. Er hat eben alles genau durchsucht.«
Sanna zögerte. »Ja, vielleicht …«, sagte sie.
Sie wollte es lieber dabei belassen. Sie konnte Erika Eckart nicht sagen, was sie wirklich dachte. Nämlich, dass der Einbrecher gezielt nach Jakob gesucht und sein Raubzug nur der Ablenkung gedient haben könnte. Dass er irgendwoher gewusst hatte, dass Jakob auf dem Gelände war, und dann in dem Schrank nach den Informationen gesucht hatte, die er brauchte, um ihn im Stift aufzuspüren.
Solange Sanna den Rest der Geschichte nicht erzählte, hörte sich das lächerlich an. Und Jakob wollte nicht, dass sie die Sache mit der Brücke erzählte. Leute, die einen Selbstmordversuch machen, würden doch sofort eingewiesen, meinte er. Also hatte Sanna ihm schließlich versprochen, keinem was zu sagen. Jedenfalls keinem außer Tante Renate.
Draußen brach die Sonne durch die Wolkendecke, und helles Licht fiel durch die Bleiglasfenster auf den Steinboden.
»Ich werde mich mal besser beeilen«, sagte Sanna. »Sonst kann ich mir den Nachtisch ganz abschminken.«
»Ja, gehen Sie ruhig. Guten Appetit.« Erika Eckart stöckelte weiter. Nach ein paar Metern blieb sie jedoch stehen und drehte sich noch mal um. »Ach, Frau Marquart …«
Sanna hielt inne. »Ja?«
»Ich hab mit den Kollegen vom Jugendamt gesprochen. Wegen Jakob. Auch wenn er abgetaucht ist, wir wissen jetzt wenigstens, wer er ist.«
»Ach, wirklich? Und wer ist er?«
»Er heißt Jakob Blank. Stammt hier aus der Gegend. Und es hatte einen Grund, dass er uns seinen Nachnamen nicht sagen wollte. Er ist nämlich nicht von zu Hause abgehauen, wie er gesagt hat, sondern aus einer psychiatrischen Klinik in Bielefeld.«
»Aus einer Klinik?«
»Ganz richtig. Und die Verletzungen hat er sich selbst zugefügt. Er hat eine Borderline-Persönlichkeit mit schizophrenen Zügen, das ist jedenfalls die Diagnose. Achtzehn ist er übrigens auch noch nicht, aber wen
Weitere Kostenlose Bücher