Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Das ist zu gefährlich. Es gibt andere Wege, sich nicht mehr traurig zu fühlen. Bessere.«
Ein Poltern im Flur. Sanna drückte die Tür auf. Mit beiden Händen trug sie ein Tablett, auf dem Kaffeetassen aneinanderklirrten.
»Sanna, du bist ein Engel«, sagte Renate. »Ich glaube, einen schönen starken Kaffee, den können wir alle gebrauchen, nicht wahr?«
»Du nimmst Zucker, richtig, Tante Renate?«, fragte sie.
»Um Gottes willen, nein! Meine Figur.«
Sanna stellte das Tablett auf dem Boden ab. Renate zog ihre Handtasche auf den Schoß und begann darin zu kramen. Sie trug immer ein kleines Döschen mit Süßstoff bei sich, falls es irgendwo keinen gab. Natürlich verhalf das nicht dazu, wieder schlank zu werden. Aber sie fand, man musste im Kleinen anfangen, dann würde es irgendwann auch im Großen funktionieren.
Sie zog ein paar Papiere hervor, eine Dose Pfefferspray, einen Schraubenzieher und packte alles auf ihre Knie. Dann entdeckte sie schließlich das silberne Süßstoffdöschen und schnappte es sich. Als sie aufsah, hielt sie überrascht inne. Jakobs Gesicht war leichenblass. Er starrte auf die Papiere, die auf ihren Knien lagen. In seinen Augen spiegelte sich Entsetzen.
Ihr Blick wanderte ebenfalls zu den Papieren. Es war das tote Kind. Renate hatte einen Abzug bei der Pressekonferenz mitgenommen und ihn in ihre Handtasche gesteckt. Er lag nun obenauf, und Jakob konnte den Blick nicht davon abwenden.
»Kennst du dieses Kind?«, fragte sie verblüfft.
»Mh, nein. Ich kenne es nicht.«
»Du kennst es sehr wohl, junger Mann.«
»Nein. Wirklich nicht.«
»Lüg mich nicht an, Jakob. Warum starrst du das Bild sonst so an?«
»Ich … Ich dachte zuerst, dass es mir bekannt vorkam. Aber das war ein Irrtum.«
Renate fixierte ihn. Es war offenbar wie mit den Namen seiner Eltern: Wenn er sich vorgenommen hatte zu schweigen, dann schwieg er.
»Lass ihn, Tante Renate. Nicht jetzt«, versuchte Sanna dazwischenzugehen.
Trotzdem wollte Renate nicht so leicht aufgeben. Vielleicht konnte sie ihn ja mit dem Mord aus der Reserve locken.
»Das Mädchen ist tot«, sagte sie kühl. »Es ist ermordet worden. Schon vor Wochen. Das Foto ist nur rekonstruiert, weil die Leiche schon stark verwest war.«
Ihn damit zu erschrecken, funktionierte jedoch nicht. Er hatte eine undurchsichtige Maske aufgelegt.
Renate begriff: Er weiß es bereits! Das ist keine Neuigkeit für ihn. Er weiß längst, dass dieses Kind tot ist.
Sanna ergriff mit erstickter Stimme das Wort.
»Ist das etwa das Kind, das wir …?«
Sie nahm das Bild auf und betrachtete es. Ihre Hände zitterten. Jetzt bereute Renate, so hart über den Tod des Kindes gesprochen zu haben.
»Es ist so ein hübsches Mädchen«, sagte Sanna. »Ganz anders als … als der Leichnam am Hang.«
Renate nahm ihrer Nichte das Phantombild sanft aus den Händen. »Lass gut sein, Sanna. Gib mir das Bild, ich stecke es wieder weg.«
Jakobs Blick war weiterhin unergründlich. Renate stellte die Handtasche weg und gab Süßstoff in ihren Kaffee.
»Na gut. Reden wir über etwas anderes«, sagte sie und rührte nachdenklich in der Tasse. »Reden wir lieber darüber, was ihr jetzt vorhabt.«
Dabei fixierte sie Jakobs Gesicht. Auch wenn sie heute nichts von ihm erfahren würde. Sie würde ihn im Auge behalten. Irgendetwas wusste er über das Geschehen, davon war sie überzeugt. Und das würde sie herausfinden.
Der Landgasthof »Zur Linde« lag außerhalb des Ortskerns von Marienbüren, an der Ausfallstraße in Richtung Bielefeld, keine hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Ein gedrungener Kastenbau aus den 70ern, der sich wenig elegant in eine Reihe alter Villen aus der Gründerzeit einfügte. Den Biergarten umgaben kitschige Laternchen, auf großen Tafeln wurden Hausmannskost und regionale Biere angepriesen und hinter den Fenstern der Gästezimmer hingen bleischwere Gardinen.
Als er eintrat, sah er im Schankraum die Männer aus der Nachbarschaft am Tresen hocken. Auf einem großen Bildschirm lief ein Fußballspiel. Scheinbar waren die Männer völlig im Spiel versunken, doch ihm entging nicht, dass jedes Mal, wenn ein Gast an der Rezeption vorbeiging, sich alle umblickten und neugierig die Hälse reckten.
Er mochte die Provinz nicht. Hier fiel es schwer, anonym zu bleiben. Die Leute achteten auf Fremde. Sie sahen ihnen hinterher, merkten sich deren Gesichter und interessierten sich dafür, welche Geschichten sie wohl zu erzählen hatten. Nicht, dass es ihm Mühe bereitete,
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