Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
anstellen soll. Sie möchte, dass wir gemeinsam überlegen, wie’s weitergeht. Aber eins kann ich euch beiden jetzt schon sagen: Ihr müsst auf jeden Fall mit der Polizei reden, wegen des Einbruchs. Einfach abzuhauen war keine gute Idee.«
Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Er schwieg. Gleich mit der Polizei anzufangen, war vielleicht nicht nötig gewesen. Renate blickte sich um. Sanna stand in der Tür und beobachtete ängstlich das Geschehen. Renate atmete tief durch.
»Vielleicht machen wir es uns erst einmal gemütlich. Soweit das hier möglich ist. Sanna, Liebes, koch uns doch mal eine Kanne Kaffee. Trinkst du Kaffee, Jakob?«
Er nickte scheu. »Gern.«
»Na also.« Renate zog einen Stuhl heran und setzte sich. Sanna ging nach nebenan. Auch Jakob nahm zögernd Platz. Er war unruhig. Die Situation schien ihm nicht zu behagen.
»Du musst keine Angst vor mir haben«, sagte Renate. »Wirklich nicht. Sanna ist meine Nichte. Familie , verstehst du? Ich bin auf deiner Seite.«
Er nickte, doch sie konnte nicht einschätzen, ob er ihr das abnahm.
»Ist es okay, wenn ich Fragen stelle?«
»Ja. Aber bitte keine Polizei. Ich will das nicht.«
»Also gut. In Ordnung. Keine Polizei. Wir finden eine andere Lösung. Ist es wegen deiner Eltern? Willst du deshalb keine Polizei?«
»Ich geh nicht nach Hause. Nie mehr.«
»Bist du denn schon volljährig?«
»Ich bin achtzehn. Seit zwei Monaten.«
Renate fixierte ihn. Er schaute sie aus großen hellblauen Augen an. Als könnte er kein Wässerchen trüben. Trotzdem war sie überzeugt, dass er ihr eine Lüge auftischte. Er war noch nicht volljährig.
»Wenn du achtzehn bist, kannst du selbst entscheiden, wohin du gehst«, sagte sie. »Aber selbst wenn du noch nicht volljährig wärst, gäbe es Lösungen. Betreutes Jugendwohnen, was auch immer. Du musst nicht nach Hause zurück, wenn du nicht willst.«
Er sah sie unbewegt an. Er schien nicht an ihre Worte zu glauben. Renate bekam den Verdacht, dass er so etwas nicht zum ersten Mal in seinem Leben hörte.
»Wo wohnen deine Eltern denn?«, fragte sie. »Hier in Marienbüren?«
Eine Antwort bekam sie nicht. Er hockte einfach da und schwieg.
»Ich verstehe. Du möchtest nicht darüber reden.« Sie holte Luft. »Aber wie stellst du dir das vor, mit dem Einbruch in das Stift? Auch wenn du nicht zur Polizei gehst, Sanna wird später noch mit denen reden müssen, da führt kein Weg dran vorbei.«
»Aber nicht ich. Ich werde nicht zur Polizei gehen.«
»Keine Polizei. Ich hab’s verstanden. Aber mir kannst du’s ja sagen: Kanntest du diesen Mann? Hast du ihn vorher schon einmal gesehen?«
»Nein. Tut mir leid. Ich kannte den nicht.«
»Aber er hat mit dir geredet, oder? Sanna hat das erzählt.«
»Ja, er kam auf mich zu, weil ich ihn gesehen habe. Da hat er mich abgefangen. Und dann hat er gesagt, ich soll ihn nicht verraten.«
»Du sollst ihn nicht verraten ?«
»Ja. Sonst würde er mir etwas antun. Ich sollte so schnell wie möglich dahin zurückgehen, wo ich hergekommen bin und keinem was sagen. Ansonsten würde er mir wehtun.«
»Hm. Hattest du Angst vor ihm?«
»Ja, schon. Er wirkte bedrohlich.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich bin zurück in den Garten gelaufen. Durch das Gartentor in der Klostermauer. Ich wollte weglaufen, bevor er es sich anders überlegt und hinter mir herkommt.«
»Ich verstehe.«
Das Szenario war gar nicht so abwegig. Dieser Typ hat ihm mächtig Angst gemacht und ihn davongejagt, um anschließend selbst unbehelligt die Flucht anzutreten.
»Und was war das mit der Brücke?«, fragte sie.
»Das war dumm von mir.« Er sah zu Boden. »Ich hatte Angst. Ich bin weggelaufen. Und dann stand ich auf einmal da oben. Da waren die Autos, die Tiefe. Ich … ich wollte nicht springen, verstehen Sie? Ich wollte nur runtergucken.«
»Weil du Angst hattest?«, fragte Renate skeptisch.
»Ja. Und weil ich unglücklich war.«
»Aber das war mehr als nur runtergucken, oder? Du bist übers Geländer geklettert.«
»Das tut mir leid.«
»Du musst dich nicht dafür entschuldigen.«
»Es war wegen des Gefühls. Wenn man nur noch einen Schritt machen muss. Das zieht im Magen. Der ganze Körper reagiert.« Er schien sich dafür zu schämen. »Da vergisst man, dass man eigentlich traurig ist. Oder Angst hat.«
Das war es also. Renate begriff. Sie wollte seine Hand nehmen, doch sie fürchtete, er würde sie wegziehen. Also lächelte sie mitfühlend.
»Mach so etwas nicht wieder, hörst du?
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