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Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)

Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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ihr Kind nicht vermisst zu melden. Da kommen eine Menge Fragen auf sie zu.«
    Böttger wandte sich von der Karte ab und nahm neben Harald Platz. Er schüttelte nacheinander die Thermoskannen, die auf dem Tisch aufgereiht waren. In der dritten fand sich noch eine Pfütze Kaffee. Böttger schraubte die Kanne auf und goss sich ein.
    Auf dem Tisch lag eine überregionale Zeitung. Das Foto vom Erdrutsch war auf der Titelseite. Es sah beeindruckend aus. Da waren keine Rettungskräfte, keine Absperrbänder, nichts. Nur der abgerutschte Hang, direkt nach dem Unglück fotografiert. Der unverstellte Blick auf die Naturgewalt.
    »Die von der Presse waren aber schnell vor Ort«, stellte er fest und zog die Zeitung heran, um das Bild näher zu betrachten. »Viel eher als wir jedenfalls.«
    »Eine der Auffindungszeuginnen arbeitet beim Marienbürener Anzeiger . Die hat die Fotos gemacht.«
    Böttger hatte mit den beiden Frauen, die das Kind gefunden hatten, nicht gesprochen. Er erinnerte sich nur an ihr zerbeultes Auto am Abgrund. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebten.
    »Bei der Zeitung, sagst du? Was für ein Zufall.«
    Automatisch suchte er unter dem Bild nach dem Namen der Fotografin.
    »Sie hieß … warte.« Harald zog eine Akte heran und blätterte darin herum. »Renate Thun, genau.«
    Böttger stutzte. Er ließ die Zeitung sinken und zog die Akte heran, wo die Personalien der Zeugen notiert waren. Tatsächlich. Renate Thun, sechsundfünfzig Jahre, geschieden, wohnhaft in Marienbüren. Er betrachtete ungläubig den Namen.
    »Kennst du sie?«, fragte Harald.
    »Ich glaube, ja. Von früher.«
    Harald betrachtete ihn aufmerksam.
    »Näher?«, fragte er.
    Böttger schob die Akte zurück. Offenbar war er leicht zu durchschauen. »Nein«, sagte er. »Nur flüchtig. Hast du mit ihr gesprochen?«
    »Nein, das war die Schulte. Wenn du mehr wissen willst, musst du mir ihr reden.«
    Böttger nickte. Er brauchte nicht mehr zu wissen. Renate. Er schmeckte den Sommer. Das Salz auf der Haut. Abgeerntete Weizenfelder, die im goldenen Licht der Augustsonne lagen. Benzingeruch, staubige Feldwege, verbrannte Grasnarben. Er fühlte sich jung. Das Leben war ein Abenteuer. Er ließ den Motor seines Mopeds aufjaulen, Renate klammerte sich an ihn, ihr Lachen in seinem Ohr.
    »Ist keine große Sache«, sagte er. »Sie hat in meiner Jugend ein paar Dörfer entfernt gewohnt. Wir waren im selben Jahrgang. Wie klein die Welt ist.«
    »Nein, die Welt ist gar nicht klein«, meinte Harald und lächelte. »Du bist nur nach Hause gekommen.«
    »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
    Er reckte sich. Schob die Erinnerung an Renate Thun zur Seite. Der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich besser beeilte. Es war gleich schon wieder Mittag, der halbe Tag vorüber, ohne dass etwas passiert war.
    »Ich mache mich auf den Weg nach Marienbüren«, sagte er. »Wir sehen uns später. Ruf mich an, falls sich was ergibt.«
    Eigentlich hatte er keine Zeit zum Trödeln, trotzdem entschloss er sich, über die kleinen Landstraßen zu fahren, die ihn durch die altvertrauten Dörfer der Gegend führte. Er betrachtete die Landschaft und dachte an früher.
    Draußen schlängelte sich eine schmale Straße am bewaldeten Hang entlang. Hohe Fichten ragten neben der Straße in den Himmel, Dornengestrüpp wucherte am Wegesrand, hinter Büschen von Brennnesseln begann die Dunkelheit des Waldes. Der Himmel hing tief und war stahlgrau. Doch für heute waren keine weiteren Regenfälle vorhergesagt worden.
    Hinter einer Kurve tauchte ein dunkler Klinkerbau neben der Straße auf. Ein riesiger alter Kasten aus der Gründerzeit, mit Erkern und Türmchen und verwittertem Fassadenschmuck, den Böttger noch aus seiner Jugend kannte. Es war ehemals eine Textilfabrik gewesen, diente aber schon damals als Lagerhalle für einen Landhandel. Fässer mit Stickstoff und Pestiziden waren dort gestapelt, und ein großer Teil des Gebäudes hatte einfach leer gestanden. Es war ein Treffpunkt für die Jugendlichen aus den umliegenden Dörfern gewesen, und somit auch für ihn.
    Er fuhr näher heran. Autos parkten hinter dem Gebäude, auf einem Schild konnte er erkennen, dass ein lokaler Radiosender und eine Fabrik für Halbleiter sich inzwischen dort niedergelassen hatten. Doch das Gebäude, die breite Schotterpiste, die bewaldeten Hügel, nichts hatte sich auf den ersten Blick verändert. Es sah alles immer noch genauso aus wie vor dreißig Jahren. Er fühlte sich, als machte er eine

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