Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
holte tief Luft. Irgendwann musste sie sich ja doch den Dingen stellen, die nicht abgeschlossen waren. Also konnte sie es genauso gut heute tun.
Jens Böttger steuerte den dunklen Passat über die schmale Landstraße, die kaum breiter war als ein asphaltierter Feldweg. Links und rechts die bewaldeten Hügel. Von der Straße aus waren nirgends Bauernhöfe zu sehen. Er bekam langsam einen Eindruck davon, wie ein Kind in dieser ansonsten relativ dicht besiedelten Gegend unentdeckt bleiben konnte. Abseits der Hauptstraßen gab es eben doch noch Landstriche, die ziemlich einsam wirkten.
Hinter einem Wäldchen parkte ein Streifenwagen an einer Einfahrt. Ein Schotterweg führte den Hang hinab. Böttger wurde hier bereits erwartet. Karin Schulte, eine Kollegin aus der Mordkommission, stand mit verschränkten Armen neben dem Polizeiauto. Breite Schultern, Kurzhaarschnitt, ein stets verschlossenes Gesicht und eine aufgesetzte Machohaltung. Nein, diese Schulte gehörte definitiv nicht zu den Frauen, die zur Polizei gingen, weil sie Papas kleiner Liebling waren und unbedingt in seine Fußstapfen treten wollten. Das war Böttger gleich am ersten Tag aufgefallen. Die Schulte war ein Kampfhund. Nicht im Herzen, aber in ihrem Habitus, und das machte sie nur gefährlicher. Wer der Welt nichts beweisen muss, lässt los, wenn er verloren hat.
Daneben stand der Dienststellenleiter der Marienbürener Polizeiwache. Böttger hatte seinen Namen vergessen, aber er war das genaue Gegenteil der Kollegin. Ein behäbiger untersetzter Uniformierter mit freundlichem Gesicht und väterlichem Lächeln. Ein typisches Exemplar der alten Schule: gläubiger Katholik, der noch nie etwas anderes als CDU gewählt hatte. Einer, der Sozialarbeit als eine lästige linksliberale Marotte ansah, obwohl er selbst im Grunde Sozialarbeiter reinsten Wassers war. Ein Dorfbulle, der sich um seine Schäfchen kümmerte. Der keinen aufgab und beharrlich an das Gute im Menschen glaubte.
Ein seltsames Paar bildeten sie da am Straßenrand. Böttger fragte sich, über was die beiden wohl geplaudert hatten, während er zu ihnen unterwegs gewesen war. Da hätte er gern Mäuschen gespielt. Er stellte den Wagen ab und stieg aus. Ein frischer Wind ging. Feuchtigkeit lag in der Luft.
»Hallo, Herr Böttger. Da sind Sie ja.« Die Schulte begrüßte ihn mit eisernem Händedruck. »Der Kollege Heinrichs war nicht überrascht, dass es um diesen Hof hier geht. Ausgerechnet.«
Heinrichs. Richtig, so hatte er geheißen. Böttger gab auch ihm die Hand.
»Gut, dass Sie kommen konnten, Herr Heinrichs.«
»Ach was«, brummte der, »ich bitte Sie.« Dann deutete er zu dem abgelegenen Bauernhof. »Die waren mir noch nie geheuer, die Leute hier. Dass da was vor sich geht, ist mir schon lange klar. Aber die passen auf. Es gibt keine Vorstrafen und auch sonst nichts. Mehr, als hier meine Runden zu drehen, kann ich da nicht machen.«
»Was glauben Sie denn, was da vorgeht?«, fragte Böttger.
»Keine Ahnung. Mit irgendwas verdienen die zusätzliches Geld, das ist sicher. Allein das Auto, das die fahren. Irgendwas Illegales läuft auf dem Hof ab, da wette ich drauf.«
»Was ist mit unserem Kind? Sie haben das Phantombild gesehen, oder? War das Mädchen auf dem Hof?«
»Ich hab es da nie gesehen. Leider nicht. Aber ich erinnere mich, dass da Kinderkleidung an der Wäscheleine hing. Mehr als einmal.«
Böttger nickte. Es war der Postbote gewesen, der sie auf den Hof aufmerksam gemacht hatte. Der Mann hatte ausgesagt, dort ein Kind gesehen zu haben, das dem Phantombild glich. Beschwören wollte er zwar nicht, dass es sich um genau dieses Kind handelte. Aber zusammen mit den anderen Hinweisen war es eindeutig: Auf diesem Weg kreuzten sich alle Linien. Böttger war sicher, dass sie einer heißen Spur folgten.
»Wollen wir?«, mischte sich die Schulte ein. »Wie’s aussieht, sind alle zu Hause.«
Böttger sah sich den Bauernhof nun genauer an. Ein kleines, schäbiges Wohnhaus mit schmutzigen Wänden und Löchern im Putz. Daneben eine alte Scheune, die kurz davor war, unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Überall wucherte Gestrüpp, auf einem Dachvorsprung war eine Birke ausgeschlagen. Gegenüber der Scheune stand ein riesiger Wohnwagen. Wie in einem amerikanischen Trailerpark. Die Reifen waren platt, und das Blech hatte überall Rostflecken. Doch offenbar lebte dort jemand. Die Fenster unter dem Zeltvorbau waren geöffnet, vor dem Eingang standen ein paar Plastikstühle, und
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