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Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)

Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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die Abspaltung einer Persönlichkeit?«
    »Genau. Wie muss ich mir das vorstellen?«
    »Das passiert meist im frühen Kindesalter. Wenn ein Kind wiederkehrend einer traumatischen Situation ausgesetzt wird. Und wenn es keine Hilfe von außen erhält. Dann kann die Psyche zu diesem Rettungsanker greifen. Sie spaltet einen Teil von sich ab, um zu überleben. Das ist der Hauptzweck. Das Kind will überleben. Darum erschafft es einen neuen Persönlichkeitsteil, der Angst und Schmerzen und die lebensbedrohenden Situationen übernimmt. Danach spaltet das Kind ihn ab, damit der Rest der Person unversehrt bleibt. Der Teil übernimmt sozusagen die traumatische Situation. Der andere Teil hat dann später oftmals gar keine Erinnerung an das Geschehen. Es sind zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten entstanden, die nichts voneinander wissen.«
    »Aber was sind das für Erlebnisse, die so was bewirken können?«
    »Folter. Schwerer Missbrauch. Sich wiederholende Misshandlungen. Meist bei Kindern, die jünger als vier Jahre alt sind.«
    Renate dachte an das schäbige Gehöft, auf dem die Blanks lebten. Was in Gottes Namen ist da nur passiert? Was wurde diesen Kindern angetan?
    »Und kann ein Kind mit so was ganz normal leben, ohne in der Schule aufzufallen?«, fragte sie. »Ich meine, die müssen sich doch merkwürdig verhalten, wenn da unterschiedliche Persönlichkeiten in einer stecken. Und dann werden die ja auch älter. Kommen in die Pubertät. Werden erwachsen. Merkt das denn keiner? Das frage ich mich bei Jakob.«
    »Du weißt doch gar nicht, ob dieser Junge …«
    »Wie gesagt, ich meine das natürlich ganz allgemein.«
    »Also gut. Es gibt in der Regel eine Alltagsperson, die am häufigsten da ist. Dann kommt es natürlich immer wieder vor, dass andere Persönlichkeitsteile die Kontrolle übernehmen, ohne dass die Betroffenen das beeinflussen können. Sie erleben immer wieder Zeitverluste. Erinnerungslücken. Finden Notizen in fremden Handschriften vor. Können sich nicht an Menschen erinnern, die behaupten, sie zu kennen. Und haben das Gefühl, verrückt zu werden. Das Umfeld muss das nicht unbedingt gleich erkennen. Multiple sind geübt darin, Dinge zu überspielen. Die lassen sich Ausreden einfallen und improvisieren. Außerdem meiden sie engere Kontakte. Auf ihr Umfeld wirken sie oft einfach sonderlich. Aber das war’s schon.«
    »Du meinst, die anderen halten einfach lieber Abstand, weil sie komisch sind.«
    »Genau. Dazu kommt, dass sie sowieso eher wenige Kontakte haben. Die stehen den Täterkreisen sehr nah, selbst im Erwachsenenalter. Da herrschen komplizierte Abhängigkeiten. Und gegenüber den Menschen außerhalb dieser Kreise sind sie scheu. Der Aufbau von Beziehungen ist für sie schwer. Sie haben von früh auf gelernt, keinem zu vertrauen. Also bleiben sie bei den Tätern.«
    »Auch wenn sie erkennen, dass sie Hilfe brauchen? Dass sie da wegmüssen? Dann müssen sie doch jemandem vertrauen. Es gibt keinen anderen Weg. Sie müssen vertrauen.«
    Jakob hatte Sanna dieses Vertrauen entgegengebracht. Obwohl er sie kaum kannte. Er muss irgendwie erkannt haben, dass er sich auf sie verlassen konnte.
    »Oft wird denen das Vertrauen regelrecht abtrainiert. Die Täter machen das, damit die Kinder schweigen und keinem etwas erzählen. Sie werden psychisch manipuliert.«
    Renate dachte darüber nach. Dennoch vertraute Jakob ihrer Nichte. Dafür musste es einen Grund geben.
    »Stehst du zu diesem Jungen in Kontakt?«, fragte Anne Feller.
    »Er ist untergetaucht. Aber ich hoffe, ich finde ihn.«
    »Geh behutsam mit ihm um, Renate. Ich kenne eine Therapeutin in Bielefeld, die halte ich für sehr fähig. Wenn du möchtest, suche ich dir die Adresse heraus. Vielleicht kannst du den Jungen dazu bewegen, sie aufzusuchen.«
    »Das ist eine gute Idee. Danke.«
    »Das Ganze ist also Teil einer Recherche?«, fragte Anne Feller. »Du willst darüber schreiben?«
    »Ja, eventuell. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde den Jungen nicht für den Artikel ausbeuten. Du kennst mich. Ich weiß, wann Schluss ist. Ich gehe nicht über Leichen. Aber da könnte wirklich eine gute Geschichte für mich drin sein.«
    Wieder Schweigen. Renate wurde den Verdacht nicht los, dass Anne Feller in Gedanken wieder bei ihrem Absturz in Frankfurt war.
    »Ich weiß, Renate. Du gehst nicht über Leichen. Und das ist etwas, das dich auszeichnet.« Sie holte Luft. Offenbar wollte sie lieber das Thema wechseln. »Ich weiß nicht, ob du mit deiner

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