Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Vermutung richtigliegst. Ich hoffe aber nicht. Wenn er tatsächlich eine gespaltetene Persönlichkeit hat, dann weiß keiner, was da in der Familie passiert ist. Welche Leute sonst noch zu den Tätern gehören. Unter Umständen kann das gefährlich werden. Sei da lieber etwas vorsichtig, ja?«
»Das verspreche ich. Ich will ja nur mit dem Jungen sprechen. Ihm helfen. Vielleicht erkennt er, dass er mir vertrauen kann.«
»Auch der Junge könnte gefährlich werden.«
»Ach was. Du kennst ihn nicht. Er ist völlig harmlos. Das geborene Opfer, wenn du mich fragst.«
»Er könnte programmiert sein, in bestimmten Situationen destruktiv zu reagieren.«
»Wie meinst du das? Programmiert?«
Anne Feller zögerte. »Ach nein, vergiss, was ich gesagt habe. Das ist zu weit hergeholt. Sei einfach vorsichtig, mehr will ich nicht sagen.«
»Komm schon. Jetzt sag, was dir durch den Kopf geht.«
»Manchmal wird diesen Kindern ein bestimmtes Verhalten antrainiert. Die Täter bringen sie dazu, automatisch auf bestimmte Schlüsselreize zu reagieren. Sie können zum Beispiel das Opfer dazu bringen, keinen Widerstand zu leisten. Oder zu gehorchen. Diese Programmierungen … meist werden sie unter Folter vorgenommen. Da werden ganz bewusst bestimmte Persönlichkeitsteile hervorgerufen, um sie zu prägen. Aber ich will mich hier nicht verrennen. Vergiss das einfach. Du siehst, es ist ein weites Feld. Und wir haben nicht einmal eine Diagnose. Nur Vermutungen. Dieser Junge kann jede mögliche Störung haben. Mit einer dissoziativen Identitätsstörung muss das nichts zu tun haben.«
»Trotzdem«, hakte Renate nach. »Wofür ist dieses Programmieren gut? Das musst du mir noch kurz erklären.«
»Nun ja. Beispielsweise, um Kinder gefügig zu machen, damit sie von Fremden missbraucht werden können. Oder damit man sie an Freier verkaufen kann, ohne dass sie Probleme machen. Oder um zu verhindern, dass sie Lehrern oder Polizisten etwas erzählen. Da reicht meistens ein Codewort. Oder ein bestimmtes Bild. Das setzt dann so ein Programm in Kraft. Ein anderer Persönlichkeitsteil kommt dann nach vorne und spult das antrainierte Verhalten ab.«
»Das hört sich sehr extrem an. Ist das denn möglich? Einen Menschen so massiv zu manipulieren?«
»Unter bestimmten Bedingungen schon. Aber ich würde da wirklich keine Rückschlüsse auf deinen Jungen ziehen. Das ist alles sehr hypothetisch. Ich maile dir die Adresse der Kollegin in Bielefeld. Am besten schickst du den Jungen dahin. Versuch ihn zu überzeugen, Hilfe anzunehmen.«
»Vielen Dank, Anne. Das werde ich tun.«
Nach dem Telefonat holte Renate die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. Sie brauchte einen kleinen Schluck, um ihre Nerven zu beruhigen. Es war nur eine Theorie. Trotzdem. Jakob war der Schlüssel. Er wusste, was auf dem Hof mit dem kleinen Mädchen passiert war. Sie vermutete, der Mord an dem Kind war nur die Spitze des Eisbergs. Doch um das zu beweisen, musste sie mit ihm selbst sprechen.
Sie dachte noch mal über die Symptome nach. Jakobs seltsames Verhalten, seine Geschichte, seine Auffälligkeiten. Alles passte ins Bild. Renate war inzwischen überzeugt: Auf dem Hof der Blanks passierte etwas mit Kindern. Was immer es war, das kleine Mädchen hatte es das Leben gekostet. Und Jakob war als gespaltene Persönlichkeit daraus hervorgegangen.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Aron war noch immer nebenan. Justins Fenster leuchteten bläulich. Wahrscheinlich hockten die beiden vor einem Computerspiel. Renate dachte daran, was Anne Feller gesagt hatte: Die Traumatisierungen mussten vor dem vierten Lebensjahr stattgefunden haben. Sie sah Aron vor sich, als kleines Kind. In ihrer Straße hatte es einen Spielplatz mit einem kleinen Fußballtor gegeben. Sie sah eine Szene von damals vor sich: Aron jagte auf seinen kurzen Beinen dem Ball hinterher, und es dauerte nie lange, da brachte ihn die Fliehkraft seines eigenen Gewichts zu Fall. Doch er sprang immer wieder auf, und als es ihm gelungen war, den Ball mit dem Fuß zu treffen und ihn dann auch noch ins Tor zu befördern, da stellte er sich breitbeinig hin, jubelte und riss die Arme in die Luft. Wie einer der ganz Großen. Ihr kleiner Macho, hatte sie zärtlich gedacht. Das Wichtigste hatte er schon in diesem Alter begriffen: Die Pose ist alles.
Wie war es möglich, einem Kind etwas derart Schlimmes zuzufügen? Es dazu zu bringen, die eigene Persönlichkeit aufzuspalten, um sich selbst zu retten? Welcher abartige
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