Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
klinischen Psychologin. Eine kleine und sanfte Frau, die damals Teil des Freundeskreises ihres Exmanns gewesen war. Renate fürchtete daher, sie würde vielleicht nicht mit ihr reden wollen. Doch Anne Feller war freundlich und zuvorkommend, als wäre nie etwas gewesen.
»Du, Anne, tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Aber ich brauche deinen Rat als Expertin.«
»Es gibt doch hoffentlich keine gesundheitlichen Probleme?«
»Nein, nein. Das ist beruflich. Ich bin hier an einer Geschichte dran, die könnte etwas dicker sein. Da ist ein Verdacht, den ich mit dir besprechen will.«
Anne Feller schwieg höflich. Sollte sie beim Erwähnen der »dicken Story« an Renates Ausscheiden aus der Frankfurter Rundschau denken, so behielt sie es für sich.
»Du weißt ja, ich bin wieder zurück in Marienbüren.«
»Ist das der Ort, wo sie diese Kinderleiche gefunden haben? Darüber sieht man ja ständig was im Fernsehen.«
»Ja, ganz genau. Und ich habe hier einen Jungen mit seltsamen Auffälligkeiten«, sagte Renate. »Er kommt aus einem sehr schwierigen Elternhaus. Stell dir vor, er ist der Bruder des toten Mädchens. Die Polizei verdächtigt seine Eltern, das Mädchen getötet zu haben.«
»Du lieber Himmel, das ist ja furchtbar. Und was ist mit dem Jungen? Wie kann ich dir helfen?«
Renate fiel direkt mit der Tür ins Haus. »Ich vermute, der Junge ist misshandelt worden. Genauso wie das kleine Mädchen.«
»Gab es denn an der Kinderleiche Spuren von Misshandlungen? Davon habe ich gar nichts in den Nachrichten gehört.«
»Nein, nicht, soweit ich weiß. Aber das allein muss noch nichts bedeuten. Ich habe Hinweise, dass in der Familie einiges nicht in Ordnung ist. Und Jakob, der Bruder des toten Mädchens, ist immer schon ein auffälliges Kind gewesen. Der Vater und dessen Freundin sitzen jetzt in Untersuchungshaft. Jakob war übersät mit Hämatomen und Brandwunden, als er aufgetaucht ist.«
Sie fügte lieber nicht hinzu, dass es eine Diagnose gab, nach der er sich diese Verletzungen selbst zugefügt hatte und dass er vorher in der Psychiatrie gewesen war. Anne Feller sollte unvoreingenommen an die Sache herangehen.
»Ich habe den Jungen kennengelernt«, meinte Renate. »Und einige Geschichten über ihn gehört. Und, nun ja … Ich habe eine Hypothese.«
»Raus damit. Was denkst du?«
Renate holte Luft. Sie wollte nicht lange um den heißen Brei herumreden. Es war eine steile These, die sie da aufgestellt hatte. Trotzdem glaubte sie, damit möglicherweise einen Treffer gelandet zu haben.
»Ich glaube, er könnte eine dissoziative Identitätsstörung haben«, sagte sie frei heraus. »Er könnte so schwer misshandelt worden sein, dass er sich in mehrere Persönlichkeiten aufgespalten hat.«
Schweigen am anderen Ende.
»Ich weiß selber, dass die Diagnose umstritten ist. Ich glaub, eine Menge Kollegen von dir stellen das Krankheitsbild grundsätzlich infrage. Ich denke nur …«
»Renate, ich zweifle nicht an dem Krankheitsbild. Aber es ist sehr, sehr schwer zu diagnostizieren. Schon gar nicht auf die Entfernung und ohne den Jungen zu kennen. Glaubst du wirklich, du kannst das so einfach einschätzen?«
»Das will ich mir gar nicht anmaßen. Es ist ja nur eine Theorie. Wegen einiger Indizien, die ich gesammelt habe. Ich will ja auch keine Diagnose von dir bestätigt haben, sondern nur deine Meinung.«
»Also gut. Dann schieß mal los.«
Renate erzählte alles, was sie wusste. Sie berichtete von den Erinnerungsverlusten, den Stimmungswechseln, den Problemen im Elternhaus und in der Schule. »Und dann stoße ich auf dieses Krankheitsbild«, schloss sie, »und lese über die Symptome. Das scheint alles zu passen. Es könnte doch sein, dass ich richtigliege, oder nicht, Anne? Der Junge könnte eine multiple Persönlichkeit haben.«
»Glaub mir, das Thema ist zu komplex. Es gibt zahlreiche psychische Störungen, bei denen diese Symptome denkbar wären. Posttraumatische Belastungsstörung, Schizophrenie, Borderline, um nur mal ein paar zu nennen. Es könnte auch was ganz anderes sein. Das lässt sich auf die Schnelle nicht sagen. Ich finde es generell problematisch, solche weitreichenden Diagnosen anhand einiger weniger Beobachtungen zu stellen.«
»Es ist ja nur eine Vermutung, mehr nicht. Ich würde gern ganz allgemein darüber sprechen.«
Anne Feller schien das Ganze nicht zu gefallen, jedoch sagte sie: »Also gut. Was möchtest du mich fragen?«
»Wie entsteht so etwas?«, fragte Renate.
»Du meinst
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