Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Im Grunde müssen wir nichts befürchten.«
»Ich will trotzdem, dass wir ihnen einen guten Anwalt geben. Einen, der vielleicht noch etwas retten kann.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. So was könnte verdächtig wirken. Wie sollte so ein Pöbel zu einem guten Anwalt kommen?«
»Das ist jetzt egal. Sehen Sie zu, dass Sie jemanden besorgen. Und zwar schnell.«
»Natürlich.«
Der Mann am anderen Ende holte tief Luft. »Ich denke, das Problem liegt ohnehin woanders.«
»Jakob. Ich weiß.«
»Ich habe mich gewundert zu hören, dass er noch lebt.«
»Die Sache im Stift Marienbüren … Ich habe das etwas unterschätzt. Er hat meinen Befehlen bisher immer gehorcht. Irgendwas hat diesmal nicht funktioniert.«
Ein dummer Fehler, zugegeben. Er hatte seine Macht überschätzt. Aber er war hier nicht der Einzige, der Fehler machte. Jakob hätte niemals diese psychiatrische Klinik in Bielefeld verlassen dürfen. Das hatten andere vermasselt. Dass sein Auftraggeber jetzt allein ihm die Schuld gab, war typisch für ihn. Aber solche Gedanken behielt er besser für sich.
»Das kommt nicht mehr vor«, sagte er. »Glauben Sie mir: Noch einmal entkommt er nicht. Dafür sorge ich.«
»Aber es muss wie ein Unfall aussehen. Wir haben schon Ärger genug. Einen weiteren Mordfall können wir uns nicht leisten.«
»Entweder das, oder er verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ein psychisch gestörter Jugendlicher, der einfach von der Bildfläche verschwindet. Der könnte überall sein. In Berlin, in Spanien, in Australien. Das wäre vielleicht die beste Variante.«
»Das überlasse ich Ihnen. Sehen Sie nur zu, dass Sie es erledigen.«
»Natürlich.«
»Ach, und da ist noch was. Jakob hat im Stift Kontakt zu einer jungen Sozialarbeiterin gehabt.«
»Zu der Feldenkrais-Lehrerin. Sanna Marquart.«
»Ja, die meine ich. Ich gehe davon aus, dass die beiden nichts mehr miteinander zu tun haben?«
»Ganz im Gegenteil. Er ist bei ihr. Seit gestern hält er sich bei ihr versteckt. Ich warte nur noch die passende Gelegenheit ab, ihn mir da zu schnappen.«
»Er ist bei ihr?« Ein schweres Seufzen. »Also gut. Dann passen Sie jetzt genau auf: Dieser Frau darf nichts passieren. Bereinigen Sie, was Sie mit Jakob verpatzt haben. Aber diese junge Frau darf nichts davon mitbekommen. Ihr darf kein Haar gekrümmt werden. Haben Sie das verstanden?«
»Ja. Ich bin nicht taub.«
»Wiederholen Sie das.«
Meine Güte, was war denn mit dem plötzlich los?
»Ich werde Sanna Marquart kein Haar krümmen. Sie wird völlig unbehelligt bleiben. Jakobs Verschwinden wird sich in ihrer Abwesenheit ereignen.«
»Also gut. Ich sehe, wir haben uns verstanden. Und jetzt kümmern Sie sich um Ihren Job. Und zwar schnell. Wir möchten nicht noch einmal enttäuscht werden.«
Und damit war das Gespräch beendet. Sein Auftraggeber hatte einfach aufgelegt. Er spürte, wie sich eisige Wut in ihm ausbreitete. Aber der Mann hatte recht. Jakob war das eigentliche Problem. Ein Problem, das längst aus der Welt hätte geschafft werden müssen. Und das war seine Schuld. Er hatte seinen Job nicht erledigt. Eine Tatsache, die er dringend bereinigen musste.
11
Der Computermonitor warf sein bläuliches Licht in den Raum, die Lüftung surrte monoton. Renate hatte gar nicht mitbekommen, wie die Dämmerung hereingebrochen war. Ihre Augen schmerzten. Sie blinzelte ein paarmal, dann knipste sie die Schreibtischlampe an und reckte sich. Sie überblickte die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Notizen, Ausdrucke, ein aufgeschlagenes Psychologielexikon. Daneben die fleckige Kaffeekanne, ein Teller voller Kekskrümel und ein halb leeres Weinglas. Der übliche Zustand nach einem arbeitsreichen Nachmittag.
Sie spürte die Aufregung. Eine ganz bestimmte Seite begann in ihr zu schwingen. Sie war an einer Story dran. Sie hatte eine Spur. Eine großartige Chance offenbarte sich ihr. Sie musste nur zuschlagen.
Sie stand auf, nahm die Flasche Weißwein vom Tablettwagen und goss großzügig nach. Ihr Arbeitszimmer befand sich im Obergeschoss einer kleinen Doppelhaushälfte aus den 70ern, die sie mit ihrem Sohn bewohnte. Ganz am Rand von Marienbüren, an einer steilen Anhöhe unterhalb des bewaldeten Höhenzugs. Von ihrem Fenster aus, einem großen Panoramafenster, wie es in den 70ern modern gewesen war, hatte sie einen großartigen Blick auf die Ortschaft und die dahinter liegenden bewaldeten Hügel. Im Sommer waren Fenster und Aussicht ein Traum. Im Winter allerdings
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