Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
zog es so fürchterlich, da musste sie sich in Decken wickeln, wenn sie hier arbeiten wollte. Sie hätte das Fenster längst austauschen lassen müssen, aber bei der Größe kostete das ein Vermögen. Ein paar Winter würde es noch mit dem alten Fenster gehen müssen.
Mit dem Weinglas trat sie an die Scheibe und blickte hinaus. Wolkenwände türmten sich am Horizont auf. Die nächste Gewitterfront war offenbar im Anzug. Von hier oben sah es aus, als würde sich die Ortschaft schutzsuchend an den Berghang schmiegen. Die Laternen flackerten in der Dämmerung auf, der Kirchturm schlug zur vollen Stunde.
Mit den Gedanken war Renate bei dem Telefonat, das sie am Nachmittag geführt hatte. Wenn ihre Intuition sie nicht täuschte, dann war es nicht nur ein einfacher Mordfall, um den es hier ging. Dann verbarg sich etwas Größeres dahinter. Eine Story, die ihr die Möglichkeit bot, sich zurückzumelden. Und zwar mit einem großen Knall. Sie musste nur die Nerven behalten. Und der Polizei einen Schritt voraus sein. Sie packte das Weinglas und leerte es mit einem großen Zug. Es würde schon klappen.
Unten knallte die Haustür ins Schloss. Das war Aron. Er kam vom Fußballtraining. Die Sporttasche wurde in die Garderobe gepfeffert, seine Jacke landete auf dem Boden. Dann hörte sie ihn mit seinen Straßenschuhen in die Küche gehen.
»Aron!«, rief sie. »Du sollst doch deine Schuhe ausziehen!«
»Sorry, Mum«, kam es völlig unbeeindruckt zurück.
Mit einem Ruck stellte sie das Weinglas ab und ging zur Treppe, wo sie sich übers Geländer beugte.
»Mensch, ich hab heute Morgen erst gewischt! Meinst du, es macht mir Spaß, immer den Dreck hinter dir wegzuwischen? Ich bin doch nicht deine Putzfrau.«
»Nein, Mum. Ich weiß. Tut mir leid.«
Renate war jedoch klar, dass er das nur sagte, damit sie Ruhe gab. Mit Einsicht hatte das nichts zu tun. Seit er in der Pubertät war, brachte er sie mit so was ständig auf die Palme.
»Und was ist mit deiner Sporttasche?«, fuhr sie mit gereizter Stimme fort. »Bleibt die jetzt einfach hier unten liegen? Mit den verschwitzten Sportsachen? Bis das Zeug nach Jauche stinkt? Und dann muss ich mich wieder erbarmen und alles waschen und sauber machen?«
Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste sie genau, dass er seine Augen verdrehte. Trotzdem ging er zurück zur Garderobe, um die Sporttasche in die Waschküche zu bringen. Renate atmete durch. Sie wusste schließlich, dass sie ihm gerade genauso auf die Nerven ging wie umgekehrt. Seine Pubertät brachte auch bei ihr nicht gerade die besten Seiten zum Vorschein. Sie hörte sich immer häufiger an wie ihre eigene Mutter. Als er unten am Treppenabsatz auftauchte, schlug sie deshalb einen versöhnlichen Ton an.
»Wie war denn dein Fußballtraining?«
»Ganz okay.«
»Und hast du ein Tor geschossen?«
Er blickte zu ihr auf, als wollte er sagen: Willst du mich verarschen? Renate hatte natürlich keine Ahnung von Fußball. Wenn sie nur ein Mädchen bekommen hätte, dachte sie oft. Dann wäre bestimmt vieles leichter. Wie erzieht man einen Jungen? Das sollte ihr mal einer sagen. Für Aron wäre es bestimmt leichter, wenn sein Vater in seinem Leben eine größere Rolle spielte. Aber so war es leider nicht, auch wenn Renate bereit gewesen wäre, Aron zuliebe viele Kompromisse einzugehen.
Nachdem er sein Sportzeug in die Waschküche gebracht hatte, ging er wieder zur Haustür.
»Ich geh noch mal rüber zu Justin.«
»Um diese Uhrzeit? Morgen ist doch Schule.«
»Nur für eine Stunde. Um zehn bin ich zu Hause. Bis nachher, Mum.«
Er verschwand durch die Haustür. Sie fiel mit einem Rums ins Schloss, dann war Renate wieder alleine. Sie ging zurück ins Arbeitszimmer. Draußen sah sie ihren Sohn durch den Garten aufs Nachbargrundstück gehen. Nebenan wurde die Terassentür aufgeschoben, und Justin trat heraus. Die beiden Jungs führten seltsame Begrüßungsrituale durch, bei denen Fäuste aneinandergeschlagen und Hände abgeklatscht wurden, dann verschwanden sie gemeinsam im Innern.
Renate dachte wieder an das Telefonat vom Nachmittag. Sie spürte Beklemmung. In was für einer heilen Welt sie hier lebten, trotz aller Probleme mit Arons Pubertät. Sie ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Gar nicht weit entfernt lauerte möglicherweise das Unvorstellbare. Es geschah in ihrer Nachbarschaft. Wenn sie denn richtiglag mit ihrer Ahnung.
Vorhin hatte sie mit einer alten Bekannten aus Frankfurt telefoniert, Anne Feller, einer
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