Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Beste wäre, er würde etwas anderes anziehen. Etwas Unauffälligeres.
Sanna zögerte. Dann ging sie zum Schrank und zog einen Umzugskarton hervor. Sie öffnete ihn vorsichtig. Damals, nach Jannis’ Tod, war bei ihnen ausgemistet worden. Ihre Mutter wollte nicht, dass aus seinem Jugendzimmer ein Andachtsraum würde, in dem noch nach Jahrzehnten die Bettwäsche aufgezogen wäre, in der er zuletzt geschlafen hatte. Stattdessen sollte Sannas Neffe das Zimmer bekommen. Sanna hatte neben anderen Erinnerungsstücken einen Teil seiner Kleidung aus dem Wäscheschrank geholt und heimlich eingepackt. Die Vorstellung, seine Lieblingsjeans oder sein Basecap könnten im Müll landen, war für sie unerträglich gewesen.
Obenauf lag ein T-Shirt, das er in seinen letzten Wochen ständig getragen hatte. Es war dunkelgrün, eng geschnitten und trug einen Fotoaufdruck auf der Brust: einen Rockstar auf der Bühne. Sanna nahm es in die Hand. Da war dieser Abend gewesen, an dem sie und Jannis durch die Clubs gezogen waren. Er hatte seine kleine Schwester mitgenommen und allen vorgestellt. Eine Nacht wie im Rausch. Sie hatte stundenlang getanzt, viel zu viel Alkohol getrunken und mit einem Typen geknutscht, den sie kaum kannte. Da war ein besonderer Moment, an den sie sich erinnerte. Sie und Jannis waren auf dem Heimweg gewesen, saßen Arm in Arm in einem Taxi, das über die Stadtautobahn jagte, und am Horizont stand die blutrote Morgensonne, die alles in ein warmes Licht tauchte. Und Sanna, übernächtigt, betrunken, satt und zufrieden und mit einem Knutschfleck am Hals, legte den Kopf auf Jannis’ Schulter und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen. Wie wunderschön unser Leben ist, hatte sie in diesem Moment gedacht.
»Hier, zieh das an«, sagte sie und gab das T-Shirt Jakob. »Eine Hose finden wir auch für dich. Die Sachen sind vielleicht ein bisschen groß, aber wenn wir die Hosenbeine umschlagen, wird es schon gehen.«
Jakob betrachtete den Karton. »Wem haben die Sachen gehört?«
»Einem Exfreund. Er hat sie bei mir liegen lassen.«
Er schien zu spüren, dass es eine Lüge war. Doch er sagte nichts. Schweigend zog er sich um. In Jannis’ Sachen wirkte er anders. Älter. Erwachsener. So würde es gehen.
»Ich muss jetzt zur Arbeit«, sagte sie. »Aber heute Nachmittag habe ich frei.« Sie dachte an den Mann da draußen auf dem Kirchplatz. »Warte hier auf mich«, sagte sie. »Und verlass besser nicht das Haus. Nur für alle Fälle. Heute Abend bist du in London.«
Sie nahm den Autoschlüssel und ging zur Tür.
»Sanna, warte.«
Sie drehte sich um. »Ja?«
Er stand da neben dem Sofa, mit Jannis’ Lieblingssachen, und blickte sie scheu an.
»Danke«, sagte er.
Sie lächelte.
»Nicht dafür«, sagte sie und verließ die Wohnung.
Auf dem Weg zum Stift Marienbüren begann es zu regnen. Sanna schaltete die Scheibenwischer ein, die mit leisem Quietschen über die Windschutzscheibe fuhren. Die schmale Straße zum Stift führte sie an dem Gehöft der Blanks vorbei. Von der Straße aus waren die düsteren und schmutzigen Gebäude zu erkennen, der alte Wohnwagen und der meterhohe Zaun. An der Einfahrt war ein Schild angebracht: Privatbesitz – Zufahrt verboten. Regen fiel auf das Gehöft nieder. Sanna spürte ein Gefühl der Beklemmung. Nicht auszumalen, was da unten mit Jakob passiert war. Und mit dem Mädchen, das sie tot aufgefunden hatte. Sie fuhr durch eine Kurve, und die Gebäude verschwanden hinter einem Wäldchen.
Der Morgen verging schnell. Sanna fiel es in den Kursen leicht, sich auf den Rhythmus der Bewohner einzulassen. Sie konnte inzwischen selbst dabei entspannen. Hier ging es darum, zu atmen und sich zu spüren. Sanna erklärte Übungen und leistete Hilfestellungen. Sie führte die Teilnehmer sanft, berührte sie, ließ Beziehungen entstehen. Es war ein gutes Gefühl. Und es war weit weg von allem, was sonst um sie herum passierte.
Am späten Vormittag hatte Sanna zwischen zwei Kursen eine halbe Stunde Pause. Nachdem alle Teilnehmer fort waren, räumte sie auf, schob die Matten zusammen und trat anschließend hinaus ins Freie. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel hellte sich auf, und der Wind trieb Wolkenfetzen vor sich her.
Sanna schloss die Tür der Turnhalle ab und trat auf den Klosterhof. Vor dem Hauptgebäude parkte der Firmenwagen eines Elektrikbetriebs, und ein alter Mann im blauen Overall kritzelte etwas auf ein Klemmbrett. Dahinter, am Zaun zur Schweinewiese, wo gerade die Fütterung
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