Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Jakob finden und ihn zu dem Mordfall befragen. Und heute schien es ihr nur noch darum zu gehen, dass er möglichst schnell verschwindet.
Die Sonne brach durch die Wolken hervor. Auf dem Rasen und in der Hecke glitzerten Regentropfen. Am Himmel, über dem Turm der Stiftskapelle, zeichnete sich ein Regenbogen ab. Tante Renate legte einen Arm um Sannas Schulter.
»Setzen wir uns doch kurz da vorn hin.«
Sie deutete auf eine Steinbank neben den Gemüsebeeten, die in der Sonne stand. Der helle Stein war noch klamm vom letzten Regenguss. Doch für ein paar Minuten würde es schon gehen. Sanna spürte die Kühle des Steins durch den Stoff ihrer Trainingshose.
»Manchmal ist es am besten, man hält sich aus allem heraus«, sagte Tante Renate. »Für alle Beteiligten.«
»Dann willst du nicht mehr über die Sache berichten?«
»Doch. Aber ich gehe meinen eigenen Weg, um an Informationen zu kommen.« Sie lächelte und strich Sanna über die Wange. »Dafür muss ich nicht meine Nichte benutzen. Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen.«
Sanna schämte sich plötzlich dafür, ihre Tante angelogen zu haben. Sie wollte ihr jetzt die Wahrheit sagen.
»Er war heute Nacht bei mir«, gestand sie kleinlaut. »Und gestern Nacht auch. Ich habe ihn bei mir wohnen lassen.«
»Das weiß ich doch längst, Sanna.« Sie nahm ihre Hand und drückte sie. »Du kannst mich nicht belügen. Dafür kenne ich dich zu gut.«
Sanna lächelte schief. »Jakob will abhauen. Wenn ich in einer Stunde Feierabend habe, bringe ich ihn mit dem Smart nach Bielefeld zum Bahnhof.«
»Mhm. Interessant. Wo will er denn hin?«
»Nach London. Ich habe ihm einen Flug gebucht.«
»London ist gut. Hauptsache weit weg von hier.«
»Aber wirst du ohne ihn an deine Informationen kommen?«
»Das werden wir sehen. Da brauchst du jetzt nicht drüber nachzudenken.«
Sanna spürte die Kraft der Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Es erinnerte sie daran, dass trotz des vielen Regens eigentlich Sommer war. Tante Renate lehnte sich an Sannas Schulter und genoss ebenfalls die Wärme. Sanna hatte das Gefühl, dass jetzt ein guter Moment war, um ihrer Tante eine Frage zu stellen.
»Was ist damals eigentlich passiert, Tante Renate?«
Sie schien nicht überrascht. »Du meinst bei der Rundschau , richtig?«
»Ja. Weshalb bist du da weggegangen? Das war doch nicht freiwillig, oder?«
»Nein, es war nicht freiwillig.«
Ihre Tante schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonnenstrahlen. Sanna betrachtete sie. Sie wirkte ganz weich und durchlässig. Gar nicht verbittert oder enttäuscht, wie sie vermutet hätte. Nur ein bisschen traurig. Und müde.
»Ich hatte den großen Fall«, sagte sie und öffnete die Augen wieder. »Meine ganz persönliche Watergate-Affäre.« Sie maß ein paar Millimeter zwischen Daumen und Zeigefinger. »So nah dran war ich. Alles war wasserdicht, der Artikel geschrieben, die Chefredaktion stand geschlossen hinter mir. Ein riesiger Skandal. Ein Tag später, und jeder in der Republik hätte meinen Namen gekannt.«
»Was ist passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. Lächelte sanft.
»Der Kronzeuge ist abgesprungen. Jemand hatte Beweismittel gefälscht, um mich lächerlich zu machen. Schließlich wurde ich erpresst. Da ist das ganze Kartenhaus zusammengestürzt. Von jetzt auf gleich. Die Rundschau konnte die Sache im letzten Moment zurückziehen. Da mussten quasi die Druckerpressen angehalten werden, aber es hat funktioniert. Peinlich war es trotzdem. Es hatte sich ja vorher schon herumgesprochen, dass da was kommt. Außerdem hat es eine Menge Geld gekostet, alles anzuhalten. Sie brauchten ein Bauernopfer. Und das war ich, natürlich.«
Ein ziemlich großer Vogel flog über sie hinweg. Vielleicht ein Fischreiher, Sanna war sich aber nicht sicher. Er drehte anmutig einen Bogen, dann flog er davon. Tante Renate blickte ihm hinterher.
»Ach, egal«, sagte sie und richtete sich auf. Offenbar wollte sie die Traurigkeit verscheuchen. »Eigentlich kommt es in dem Job darauf an, einen guten Text zu schreiben. Das ist unser Handwerk, verstehst du? Da ist es egal, ob’s die große Politik ist oder ein Schützenfest. Das wird viel zu oft unterschätzt. Ich mache gute Arbeit, und der Rest ist mir nicht wichtig.«
»Was war das für eine Story, Tante Renate?«
Sie blickte an Sanna vorbei in die Ferne. Hing einem Gedanken nach. Dann sah sie ihrer Nichte in die Augen und lächelte.
»Ich war nicht aus so hartem Stahl gemacht, wie ich gedacht hatte.
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