Schlafende Geister
zu meinem Zimmer und ging hinüber zum Schreibtisch. Ich schenkte mir einen ordentlichen Schluck aus der Flasche ein, die ich in einem der Fächer aufbewahrte, dann ging ich hinüber zu dem Sofa unterm Fenster. Die Fensterläden standen offen, der schwache Schein der Straßenbeleuchtung spiegelte sich in der dunklen Scheibe, und als ich mich aufs Sofa setzte und eine Zigarette anzündete, fiel der Schatten meines dummen rauchenden Schädels auf den Boden.
Dumm …
Das blauäugige Tier.
Dumm und unschuldig.
Ich war nicht unschuldig. Ich war treulos, dumm und schwach.
»Tut mir leid, Stace«, murmelte ich. »Es tut mir wirklich leid …«
Ist schon in Ordnung.
»Nein, ist es nicht.«
Du kannst nicht die ganze Zeit traurig sein, John. Nicht für immer. Das bringt dich um. Du musst ab und zu auch mal glücklich sein.
»Ich kann nicht –
« Doch, du kannst. Du warst doch gerade eben mit Bridget glücklich.
»Bitte, hör auf.«
Sie ist nett.
»Ja, aber sie ist nicht du .«
Ist doch in Ordnung, John. Wirklich, ist doch in Ordnung. Weine nicht mehr.
Ich schniefte schwer, wischte mir Rotz und Tränen aus dem Gesicht.
Ich bin in deinem Herzen, John … für immer. Egal, was passiert.
»Ich weiß.«
Ich liebe dich.
Ich dachte, ich könnte vielleicht einfach in der dunklen Stille sitzen und für den Rest des Abends in ein betrunkenes Nirgendwo wegdriften, aber nach ungefähr fünf Minuten des Nicht-Trinkens, Nicht-Denkens, Nur-gedankenlos-vor-mich-Hinstarrens ließ mich etwas das unberührte Whiskyglas abstellen und vom Sofa aufstehen.
Es war fast sechs Uhr.
Ich starrte hinüber auf den Wandsafe, stellte mir die 9-mm-Pistole darin vor und dachte kurz an meinen Vater. Ich stellte mir vor, wie er sie sich, allein in seinem Zimmer, an den Kopf gehalten hatte … und ich erinnerte mich wieder an Leons Frage: Wenn du dich umbringen willst, wieso machst du dir noch die Mühe, vorher die Tür abzuschließen? Wozu soll das gut sein? Und ich überlegte, ob es darauf wohl eine sinnvolle Antwort gab oder ob es – wie fast alles in diesem Leben – zu den Dingen gehörte, die genauso sinnlos waren wie das Leben selbst.
Wahrscheinlich würde ich es niemals herausfinden.
Cal wartete schon vor seinem Haus, als mich das Taxi absetzte. In seinem langen schwarzen Mantel, dem abgetragenen alten Filzhut und mit den strubbeligen Haaren, die wild unter dem Hut hervorschauten, wirkte er wie eine mutierte Version von Sam Spade.
»Du bist spät dran«, sagte er.
»Ja, tut mir leid.«
»Ist schon Viertel nach sechs.«
»Ich weiß.«
»Und wieso gehst du nicht an dein scheiß Handy? Ich hab seit Stunden versucht, dich anzurufen.«
Ich zog das Handy aus der Tasche und schaltete es ein. »Muss ich versehentlich ausgestellt haben.«
»Verdammte Kacke, John …«
»Weshalb wolltest du mich denn anrufen?«
Er sah auf seine Uhr. »Erzähl ich dir im Wagen.«
Es war komplett dunkel, als wir bei Cal losfuhren, raus aus der Stadt Richtung Norden. The Turk’s Head, der Pub, wo Bishop angeblich den Mann namens Ray treffen würde, lag ungefähr drei Kilometer westlich von Stangate Rise, der Siedlung, in der die Gerrishs wohnten. Es war ein großes, familienfreundliches Lokal mit Restaurant, Biergarten und einem Kinderspielplatz, und obwohl es ein ganzes Stück von der Stadt entfernt lag, war es meistens gut besucht.
Um diese Zeit am Abend gab es kaum Verkehr – es war zu spät, um vom Einkaufen nach Hause zu fahren, und zu früh, um schon auszugehen – und Cal nutzte die freie Strecke und jagte den Mondeo mit weit über 60 Meilen pro Stunde über die Straße. Seine Hände klammerten sich fest um das Lenkrad, die Augen waren weit aufgerissen und er redete so schnell, wie er fuhr.
»Hör zu, was ich dir erzählen wollte, das Suchprogramm, es hat was über Bishop gefunden, etwas wirklich Unheimliches … also, vielleicht ist es ja auch nichts und vielleicht ist es auch nicht wirklich unheimlich, aber die Sache ist die, die Suchmaschine hat dieses Archiv gefunden, das jemand auf einer privaten Website erstellt hat, so eine Art lokales Zeitungs-Dingsbums, eine Website über örtliche Geschichte oder so.«
»Warte mal einen Moment«, sagte ich.
»Was ist?«
»Erstens verstehe ich kein Wort von dem, was du sagst. Und zweitens fährst du zu schnell.«
»Wir sind spät dran.«
»Spielt keine Rolle. Fahr langsamer.«
»Aber wenn wir nicht rechtzeitig –«
»Wenn du so weiterfährst, kommen wir gar nicht
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