Schlafende Geister
an.«
Er nickte, leckte sich über die Lippen und nahm den Fuß vom Gas.
»Okay«, sagte ich ruhig. »Wie viel Speed hast du eingeworfen?«
»Nicht viel. Ich hab nur –«
»Du musst dich in den Griff kriegen, Cal. Sofort. Okay? Wenn du dich nicht kontrollieren kannst, fahren wir nirgendwohin.«
»Ich kann mich kontrollieren.«
»Na, gut, dann tu’s.« Ich sah ihn an. »Ich will kein Wort mehr von dir hören, bis du deine Gedanken sortiert hast. Verstanden?«
Er nickte.
Ich zündete eine Zigarette an und sah aus dem Fenster. Es war Vollmond, er hing tief und bleich am Himmel und sein kaltes Licht färbte die Nacht grau. Inzwischen lag die Stadtgrenze hinter uns und wir fuhren über eine unbeleuchtete doppelspurige Schnellstraße durch eine sterbende Landschaft aus kleinen Dörfern und Ackerland. Eschen mit fast kahlen Zweigen säumten die Straße, dahinter lagen die Reste eines uralten Waldes. Viel war nicht mehr übrig davon: Überall gab es Gräben voller Müll und sinnlose Motorradspuren zerfurchten den Boden. Trotzdem konnte man sich noch immer ein bisschen vorstellen, wie urwüchsig der Wald einmal ausgesehen haben musste. Farblos in der Kälte der Nacht, ein Bild von dunkler Erde, Gras und schwarzen Wasserflächen, in denen sich der sternenlose Himmel spiegelte. Knochen, Überreste von Tieren, wie erbleichte Juwelen des Winters auf den Hängen der schwarzen Hügel verstreut. Es musste ein einsamer Ort gewesen sein, stolz und wild und der Zeit enthoben …
Ich schnippte die Zigarette aus dem Fenster und drehte mich zu Cal um. »Wieder in Ordung?«, fragte ich.
Er nickte. »Ja …«
»Alles klar mit uns beiden?«
Er grinste mich an. »Ja, alles klar.«
»Gut. Und was wolltest du mir jetzt erzählen?«
»Bishop hat einen Bruder«, sagte er. »Und rate mal, wie der heißt.«
Raymond Bishop, so erklärte Cal, war ein Jahr jünger als Mick. Die beiden Brüder hatten bei ihren Eltern Stanley und Gale in einer Sozialsiedlung in Ilford gelebt, bis – dem Bericht einer Lokalzeitung zufolge – in der Nacht vom 18. März 1965 ein Feuer ausbrach und das Haus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Beide Eltern waren in den Flammen umgekommen, doch Raymond und Mick hatten überlebt.
»Mick war damals elf«, erzählte mir Cal. »Und Raymond war zehn. Drei Tage später stand in der gleichen Zeitung, dass der Brand durch ein defektes Stromkabel verursacht wurde.«
»Steht auch irgendwas drin, wie die beiden Jungen überlebt haben?«
Cal schüttelte den Kopf. »Es heißt nur, dass die zwei aus dem Krankenhaus entlassen und in ein Kinderheim in Brentwood gebracht wurden, das den Namen Pin Hall trug.«
Ich sah Cal an. »Und …?«
Er seufzte. »Pin Hall wurde 1969 durch ein Feuer zerstört. Neun Menschen starben, siebzehn wurden schwer verletzt. Alle Unterlagen, alle Aufzeichnungen … alles ging bei dem Brand verloren.«
»Scheiße.«
»Ja.«
»Und schuld war wieder ein defektes Stromkabel?«
»So wurde es damals dargestellt, ja. Aber vor ein paar Jahren gab es neue Nachforschungen wegen ungeklärter Missbrauchsfälle in Pin Hall, und inzwischen ist man sich ziemlich sicher, dass das Feuer absichtlich gelegt wurde.«
Ich zündete eine neue Zigarette an. »Und was ist mit Raymond und Mick nach dem Brand passiert?«
»Na ja, das Suchprogramm hat jede Menge über Mick Bishops Vergangenheit gefunden – wann er zur Polizei gekommen ist, wann er befördert wurde, mit welchen Fällen er zu tun hatte … so was alles. Und wenn du zwischen den Zeilen liest, wird ziemlich deutlich, dass er nicht gerade der sauberste Bulle der Welt ist … aber es gibt keine klaren Beweise dafür. Keine großen Anschaffungen, keine Zweitwohnungen, keine Laster, keine Extravaganzen … sein Privatleben existiert praktisch nicht. Er scheint einfach nichts zu machen.«
»Was ist mit Raymond?«, fragte ich. »Was ist aus dem geworden?«
Cal zuckte die Schultern. »Nach dem Brand in Pin Hall … gibt es nichts mehr.«
»Nichts?«
»Gar nichts … keine einzige Spur von Raymond Bishop. Es ist, als ob er vom Erdboden verschwunden wäre.«
»Kann es sein, dass er in dem Feuer umgekommen ist?«
Cal schüttelte den Kopf. »Dann wäre sein Name in der Untersuchung aufgetaucht und das Suchprogramm hätte seine Sterbeurkunde gefunden.«
»Hat es aber nicht?«
»Nein.«
»Dann lebt er also noch?«
»Sicher ist es nicht …«
»Aber du nimmst es an?«
»Vielleicht schon …«
»Glaubst du, er ist Charles Raymond
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