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Schlafende Geister

Schlafende Geister

Titel: Schlafende Geister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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näher heranzugehen. Stattdessen betrachtete ich wieder die Regale, sah Zangen, Klammern, Puppen, Masken, Proteinpulver, Schlagstöcke, Hinrichtungsfotos, eine schwarze, ledergebundene Bibel … und mitten unter all diesem Wahnsinn stieß ich auf ein Schwarz-Weiß-Foto in einem billigen Papprahmen. Soweit ich es sehen konnte, war es das einzige gerahmte Foto im ganzen Zimmer. Es zeigte zwei Jungen, die vor einem großen grauen Haus standen. Beide hatten dunkle Haare, beide lächelten nicht, beide trugen einen Pullover mit V-Ausschnitt. Ich nahm das Foto in die Hand und betrachtete es von Nahem. Auf einem Granitblock über der Eingangstür zu dem Haus konnte ich ganz schwach die eingravierten Worte PIN HALL erkennen. Ich schaute wieder auf die beiden Jungen und war mir ziemlich sicher, dass ich Mick und Ray Bishop vor mir hatte. Mick war etwas größer als Ray, und auch wenn er nur ein Jahr älter war als sein Bruder – ungefähr fünfzehn, als das Foto aufgenommen wurde –, konnte man deutlich erkennen, dass er der Dominantere war. Er stand vor seinem Bruder, den Körper angespannt, und starrte mit festem Blick in die Kamera … Es wirkte beinahe so, als wollte er Ray vor den unsichtbaren Augen der Zukunft, vor den Augen hinter der Kamera, den Augen von Menschen wie mir schützen.
    Als ich danach Ray näher betrachtete, merkte ich, dass der Blick des Vierzehnjährigen fast dem Ausdruck entsprach, den ich an diesem Abend gesehen hatte, als Mick hinter dem Pub mit seinem Bruder wegen irgendwas geschimpft hatte. Die gleiche Verachtung, die gleiche Leere, das gleiche Fehlen jeglicher Emotion …
    Es war beängstigend.
    Ich stellte das Foto wieder zurück aufs Regal und schaute mich weiter um. Es gab jede Menge Bücher: Spinoza, Voltaire, Unamuno, Das Wolfsmädchen, Skinned , Leviathan, Wie wir sterben, Die Physik der Welterkenntnis, Todeskult, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Vom Wesen physikalischer Gesetze, Infinity and the Mind, Drei Schritte zur Hölle . Merkwürdige kleine Gegenstände lagen herum: bemalte Totenschädel, winzige Skelette, verstörende Skulpturen. Es gab Dinge in Gläsern: tote Insekten, eingelegte Mäuse, Embryos, Orakelknochen … alle möglichen unberührbaren und unbekannten Dinge. Sie strahlten eine Stille, eine Art verstaubtes Schweigen aus, was mich an Ausstellungsstücke in einem Provinzmuseum erinnerte … doch das hier war ein Museum, das niemand besuchen sollte, das Museum einer verdorbenen Seele. Diese Ausstellungsstücke waren nicht für die Augen anderer Menschen bestimmt.
     
    Nach einer Stunde, wie es mir schien, obwohl es in Wirklichkeit wohl nicht mehr als zwanzig Minuten waren, stieß ich auf eine kleine Holztruhe, die ganz hinten in einem Kleiderschrank versteckt war. Zuerst wusste ich nicht recht, warum sie mich anzog, wieso ich auf sie so anders reagierte als auf alle übrigen Dinge im Zimmer … Doch nachdem ich mich vor dem Schrank niedergebückt und eine Weile darüber nachgedacht hatte, wurde mir plötzlich bewusst, dass die Holztruhe – im Unterschied zu allem andern – nicht offen ausgestellt war.
    Sie war versteckt.
    Vor Blicken verborgen.
    Ich überlegte einen Moment, was das wohl zu bedeuten hatte … dann fasste ich in den Schrank, hob die Truhe heraus und öffnete sie.
    Auf den ersten Blick schien sie nichts weiter zu enthalten als eine planlose Sammlung beliebiger Gegenstände … unbedeutenden Kram: einen Schuh, ein Haarband, eine kaputte Armbanduhr, eine rosa Strickjacke, ein paar Ringe, Armbänder, ein Portemonnaie …
    Und eine Halskette …
    Einen silbernen Halbmond an einer Silberkette.
    Anna Gerrishs Kette.
     
    Ich weiß nicht, wie lange ich am Boden dieses abstoßenden Zimmers hockte und in die Truhe voll grausamer Souvenirs starrte. Dieser Mann – Ray Bishop, Charles Raymond Kemper, Joel R. Pickton … wie immer er sich auch nennen mochte – dieser Mann hatte Anna Gerrish ermordet. Er hatte sie in seinen Wagen gelockt, überwältigt, erstochen, getötet, ihre Leiche am Straßenrand entsorgt … und er hatte ihre Kette mitgenommen. Als Souvenir. Zur Erinnerung an das, was er getan hatte.
    Als ich in die Truhe starrte, wollte ich, dass ich mich irrte. Ich wollte nicht glauben, dass all dieser unbedeutende Kram in Wahrheit gar kein unbedeutender Kram war, sondern der Besitz von Menschen, von Mädchen, Frauen … die wahrscheinlich alle tot waren.
    Umgebracht.
    Ermordet.
    »Scheiße«, hörte ich mich sagen.
    Es waren so viele

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