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Schlafende Geister

Schlafende Geister

Titel: Schlafende Geister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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    Wusste Mick Bishop davon? Ich überlegte. Wusste er, dass sein Bruder ein Serienmörder war? Oder war er sich nur darüber im Klaren, dass Ray Anna Gerrish ermordet hatte? Ich zog einen Stift aus meiner Tasche und hob damit vorsichtig die Kette aus der Truhe. Sie war ein Beweisstück, das war mir klar. Sie bewies, dass Ray Bishop Anna Gerrish ermordet hatte. Aber was konnte ich mit diesem Beweis anfangen? Wem konnte ich die Kette anvertrauen?
    Ich stellte mir diese Fragen noch immer, als ich plötzlich hörte, wie ein Wagen vor dem Haus hielt.
    Ich erstarrte für einen Moment und horchte genau. Ich hörte den Motor ausgehen … danach ein paar Sekunden lang nichts … und schließlich, wie eine Tür aufging und jemand ausstieg. Ich wusste, Ray Bishop konnte es eigentlich nicht sein, sonst hätte Cal mich doch gewarnt, aber trotzdem …
    Ich musste mich vergewissern.
    Ich ließ die Kette in meine Tasche gleiten, stand eilig auf, lief zum Fenster hinüber und zog die Kante des schweren schwarzen Vorhangs zur Seite. Ein, zwei Sekunden lang versuchte ich mir einzureden, dass der Wagen, der draußen stand, kein weißer Toyota Yaris und der Mann, der unter mir den Weg aufs Haus zuging, nicht Ray Bishop war … doch ich wusste, ich vergeudete bloß Zeit.
    »Scheiße«, sagte ich wieder, als ich hörte, wie er seinen Schlüssel ins Haustürschloss steckte.
    Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war: Verdammt, was macht Cal denn, dass er Ray Bishop nach Hause fahren lässt, ohne mich zu warnen? Doch als ich hörte, wie die Haustür aufsprang, begriff ich, dass es dringendere Dinge zu überlegen gab. Ray Bishop war unten. Ray Bishop tötete Menschen. Und jeden Moment würde er raufkommen.
    Ich hörte, wie die Tür zuschlug.
    Ich überlegte kurz, ob es irgendeine Chance gab, vernünftig mit ihm zu reden. Ich stellte mir vor, wie er unten im Flur stand, absolut still, und die Gegenwart eines Fremden in seinem Haus wahrnahm.
    Nein, er war kein Mann, mit dem man vernünftig reden konnte.
    Ich hörte einen vorsichtigen Schritt auf der Treppe.
    Er tötete Menschen.
    Wieder ein Schritt, jetzt entschiedener …
    Ich zog den schweren schwarzen Vorhang zurück und riss an dem Fenster, versuchte es zu öffnen. Doch es rührte sich nicht. Der Rahmen war mit Farbe zugekleistert. Ich wartete einen Moment, horchte wieder. Ray kam jetzt die Treppe rauf. Er bewegte sich ziemlich langsam, aber ich wusste, dass mir nur Sekunden blieben, um zu verschwinden. Ich huschte hinüber zu einem der Regale, schnappte mir ein Messer mit Elfenbeinknauf, dann jagte ich wieder zurück. Ich riss den Vorhang zur Seite, hackte die Klinge zwischen Fenster und Rahmen, versuchte die uralte Farbe zu durchstechen, doch sie war zu dick, zu hart … es war, wie in Superleim zu stechen.
    »Scheiße«, zischte ich und geriet in Panik.
    Draußen auf dem Flur hörte ich Bishop.
    Ich ließ das Messer fallen, sah mich um und entdeckte auf dem Regal rechts von mir ein großes Glasgefäß. Es war ein Fünfliterglas, randvoll mit irgendeiner weißlich grauen Asche, und ich ging gerade darauf zu und nahm es hoch, als die Schlafzimmertür aufflog, und da war Ray Bishop, er stand in der Tür mit dem Samuraischwert in der Hand.
    Er lächelte.
    Ich sah ihn kaum an, ging bloß hinüber zum Fenster, stieß das Gefäß durch die Scheibe, und während der ohrenbetäubende Lärm noch durchs Zimmer hallte, kroch ich blitzschnell durch das geborstene Glas. Als ich hörte, wie Bishop mir nachstürzte, ließ ich mich am Fenster hinunter, hielt mich mit den Händen am Sims fest, schwang dabei den Körper nach links und reckte die Füße einem Regenrohr entgegen, an das ich mich vage erinnerte und von dem ich hoffte, dass es tatsächlich da war. Doch meine Füße ertasteten nichts. Kein Regenrohr, keinen Halt, nur die schiere Backsteinwand. Und ich hatte keine Zeit mehr. Ray Bishop war jetzt am Fenster, streckte den Kopf raus, das Schwert in der Hand, und seine Augen starrten eiskalt in meine.
    »Hallo, John«, sagte er, immer noch lächelnd.
    Ich erwiderte nur kurz seinen Blick, dann schloss ich die Augen, wappnete mich und ließ das Fensterbrett los.
     
    Ich erinnere mich nicht daran, wie ich gefallen bin. Ich weiß nur noch, wie ich die Fensterbank losließ, dann – fast im selben Moment – der erschütternde Schlag, als ich am Boden aufkam. Ein starker Schmerz schoss mir durchs rechte Bein, und als ich mich abrollte und schwer atmend auf die Füße kam, stieg der

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