Schlafende Geister
Nacht in einer Zelle zu verbringen, würde ich so immerhin ein paar Stunden Ruhe und Frieden finden – genug Zeit, um nachzudenken, auszuruhen und womöglich ein bisschen zu schlafen.
Ich hätte es besser wissen müssen.
»Tut mir leid, Mr Craine, ich fürchte, wir sind heute Nacht etwas überbelegt«, informierte mich der Haftprüfungsbeamte, während er mich zu den Zellen hinunterführte. »War heute mal wieder so ein Tag.« Er lächelte mich an. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, die Zelle zu teilen.«
Als die Tür hinter mir ins Schloss krachte und automatisch verriegelt wurde, blickte ich auf den riesenhaften Körper eines Mannes, der auf der Kante von einem der zwei schmalen Betten saß, die Beine breit gegrätscht, die Augen hungrig auf mich gerichtet. Er war eine der übelsten Gestalten, denen ich je begegnet war. Ein massiger Kerl, deutlich über eins achtzig groß und fast genauso breit, mit strähnigen, fettigen Haaren, einem verstümmelten Ohr, gelblicher Haut, langen, schmutzigen Fingernägeln und einem tätowierten Blitz am Hals. Er trug einen violetten Trainingsanzug mit oben offenem Reißverschluss, sodass die haarlose fette Brust darunter zu sehen war, und rauchte eine King-Size-Zigarette mit abgerissenem Filter. Er war riesig, so massig und schwer, dass sich der Metallrahmen des Betts unter seinem Gewicht durchbog.
Er grinste mich an und zeigte seine tabakfleckigen Zähne. »Na schau einer an«, sagte er. »Siehst ja echt süß aus.«
Mein Vater hat mir nicht viele Ratschläge mit auf den Weg gegeben, aber zu den Dingen, die er mir beigebracht hat, gehört eine Lektion, die ich nie vergessen habe: Auch wenn du Gewalt wann immer möglich vermeiden solltest, ist sie doch ein Bestandteil der menschlichen Natur. Und deshalb muss dir klar sein, wie du sie im Ernstfall einsetzt.
»Es gibt nur drei Dinge, die du übers Kämpfen wissen musst, Johnny«, hatte er mir erklärt. »Du musst deinen Gegner treffen, bevor er dich trifft, du musst ihn so fest wie möglich treffen, am besten mit etwas anderem als deinen Fäusten, und du musst ihn da treffen, wo es den größten Schaden anrichtet. Und denk dran, versuch nicht, deinen Gegner zu demütigen oder ihm zu zeigen, wie stark du bist, versuch ihm einfach nur so wehzutun, wie du kannst, und ihn so schnell wie möglich außer Gefecht zu setzen.«
Und das hatte ich im Kopf, als sich der riesige Bastard vom Bett erhob, die Hände in die Seiten stützte und durch die Zelle auf mich zugewalzt kam. Ich wollte nicht warten, bis er mich erreicht hatte, und ich wollte mir auch selbst nicht die Zeit geben, drüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat, deshalb zwang ich mich – obwohl alle Zellen in meinem Körper schrien, ich solle mich so weit wie nur möglich von ihm entfernen –, ihm entgegenzutreten. Als ich es tat, sah ich eine gewisse Überraschung in seinen Augen aufblitzen und einen Moment lang schien er zu zögern. Das war der Augenblick, in dem ich zur Decke hinaufsah. In dem kurzen Moment, während er mir instinktiv folgte und den Kopf ebenfalls zur Decke hob, um zu sehen, wonach ich schaute, kam ich dicht genug an ihn ran, um meine Faust gegen seine ungeschützte Kehle zu rammen. Ich legte alles, was ich besaß, in den Schlag und stieß so fest zu, dass ich einen Moment lang wirklich vom Boden abhob, dann knickte der riesige Koloss plötzlich ein wie ein Sack. Während er am Boden lag, sich an den Hals griff und nach Luft schnappte, machte ich einen Schritt zurück und trat ihm mit Wucht in die Eier und dann – nur so als Zugabe – noch einmal ebenso hart gegen den Kopf.
Danach lag er einfach da, rührte sich nicht, gab keinen Laut von sich und ein dünnes Blutrinnsal sickerte aus dem halb offenen Mund, sodass ich einen kurzen Moment dachte, ich hätte ihn umgebracht. Und während ich mich neben ihn kniete, um seinen Puls zu fühlen, hörte ich bereits eine anklagende Stimme in meinem Kopf sagen: Jetzt hast du’s geschafft. Jetzt hast du wirklich alles versaut. Aber nach ein paar Schrecksekunden, in denen ich vergeblich herumtastete, um seinen Puls zu finden, spürte ich plötzlich die schwache Bewegung des Bluts unter meinem Finger.
Er lebte.
Alles war okay.
Kein Grund zur Sorge.
Ich fasste in seine Taschen, zog Zigaretten und Feuerzeug raus, setzte mich aufs Bett, zündete die Zigarette an und wartete darauf, dass er aufwachte.
Es dauerte nicht lange. Nach wenigen Minuten begann er zu stöhnen und zu husten und schon bald
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