Schlafende Geister
ich nachgedacht habe …«
»Leon«, sagte ich. »Ich glaube wirklich, du solltest dich jetzt ausruhen.«
»Weißt du, was ich nicht verstehe, was ich nie rausfinden konnte …« Er sah mich an, sein Körper war jetzt einigermaßen ruhig. »Als sich dein Vater in seinem Zimmer umgebracht hat … wieso hat er da die Tür abgeschlossen?«
»Was?«
»Das ergibt doch keinen Sinn, oder? Wenn du dich umbringen willst, wieso machst du dir noch die Mühe, vorher die Tür abzuschließen? Wozu soll das gut sein?«
»Keine Ahnung …«, sagte ich verwirrt. »Hab ich noch nie drüber nachgedacht …«
Er lächelte von fern. »Solltest du aber vielleicht.«
»Willst du mir sagen …?«
»Tut mir leid, John«, murmelte er und seine Augen schlossen sich wieder. »Könntest du Claudia bitten, dass sie zu mir raufkommt? Ich glaube … ich glaube, ich bin …« Er seufzte schwer. »Gott verdammt, bin ich müde.«
22
»Wie viel Zeit hat er noch?«, fragte ich Imogen
»Wenn ich das wüsste«, seufzte sie. »Aber du kennst ja Dad, er weigert sich, drüber zu reden.« Wir saßen im Auto – einem absurd teuren schwarzen Mercedes – und Imogen fuhr mich nach Hause. »Er hat gute Tage und schlechte Tage«, fuhr sie fort. »Manchmal ist er okay und dann wieder … na ja, du hast ja erlebt, wie es ihm heute Abend ging.«
Ich nickte. »Ist er jetzt die ganze Zeit zu Hause?«
»So ziemlich. Ab und zu schleppt er sich ins Büro und er besteht auch immer noch drauf, dass ich ihn über alles, was im Geschäft läuft, auf dem Laufenden halte, doch die meiste Zeit verbringt er inzwischen in seinem Arbeitszimmer.«
»Und was macht er da oben?«
»Ich weiß es nicht genau … es gibt ein paar Dinge, an denen er schon seit Jahren arbeitet – alte Fälle, nehme ich an. Er schickt ständig E-Mails an Leute, spricht mit alten Kollegen …« Sie seufzte wieder. »Scheint es einfach nicht lassen zu können.«
»Na ja«, sagte ich. »Vielleicht ist das gar nicht so schlecht … zumindest besser, als bloß rumzuliegen und sich selbst zu bemitleiden.«
»Wahrscheinlich ja …«
Ich warf einen Blick zu ihr hinüber und merkte, wie sehr sie sich über die Jahre verändert hatte. Dabei sah sie gar nicht so viel anders aus als das siebzehnjährige Mädchen, von dem ich mal gedacht hatte, dass ich sie liebte – das gleiche glänzend schwarze Haar, die gleichen aparten Gesichtszüge, die gleiche Ausstrahlung einer fast aristokratischen Eleganz. Aber sie war erwachsen geworden. Sie war eine verheiratete Frau. Sie führte ein Unternehmen. Sie war selbstsicher, kompetent … sie kam mit der Welt zurecht.
»Was ist?«, fragte sie und lächelte, als sie merkte, dass ich sie ansah. »Was hast du?«
»Nichts … ich hab bloß …«
»Was? Mich angeguckt?«
»Tut mir leid …«
Sie lachte. »Ich beschwer mich ja nicht.«
Ich sah eine Weile aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen. Wir fuhren jetzt durchs Zentrum und die Stadt pulsierte mit all den Kneipenbesuchern und Clubgängern – Gruppen von Mädchen, Gruppen von Männern … kurze Röcke, betrunkene Blicke, T-Shirts, fehlende Mäntel …
»Und«, fragte ich Imogen. »Wie geht’s Martin?«
Martin war ihr Mann – Martin Rand. Irgend so ein Finanzmensch, er arbeitete in der City, pendelte jeden Tag zwischen Hey und London. Bis auf die Tatsache, dass er unerträglich dynamisch, wahnsinnig gut aussehend und unglaublich reich war, wusste ich eigentlich nicht viel über ihn.
»Weißt du das denn nicht?«, fragte Imogen.
»Weiß ich was nicht?«
»Wir haben uns getrennt.«
»Echt?«
Sie nickte. »Vor ein paar Monaten … ich dachte, du wüsstest es.«
»Nein …«
»Deshalb wohne ich im Moment zu Hause.«
»Oh, natürlich … ich dachte, du wärst bloß zu Besuch da.«
Sie sah mich an. »Bist du sicher , dass ich es dir nicht erzählt habe? Ich hätte schwören können …«
»Ich würde mich doch erinnern, wenn du es gesagt hättest«, antwortete ich. »Was ist denn passiert …? Oder willst du lieber nicht drüber reden?«
»Doch«, sagte sie leichthin. »Ist keine große Sache. Es war nur … ach, da kam vieles zusammen. Wir haben uns einfach auseinandergelebt, glaube ich.« Sie zögerte einen Moment. »Und weißt du … Martin wollte immer Kinder …«
»Und du nicht?«
Sie warf mir einen Blick zu. »Ich wollte eine Familie, ja … aber ich wollte auch weiter arbeiten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Lust, den ganzen Tag zu Hause zu
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