Schlafende Geister
behutsam den Kognak, dann beugte er sich vor und stellte das Glas vorsichtig auf den Schreibtisch. »Also«, sagte er und schaute zu mir herüber. »Wie läuft’s so, John?«
Ich lächelte. Es war dieselbe Frage, die er immer stellte, und sie bedeutete immer das Gleiche: Trinkst du, trinkst du nicht, hältst du dich von Drogen fern?
»So weit ganz gut«, antwortete ich.
»Ja?«
»Ein paar Entgleisungen ab und zu.«
Er nickte. »Ich riech es an deinem Atem.«
Ich sah ihn an. »Es geht mir ganz gut.«
Er hielt eine Weile meinen Blick fest, suchte nach der Wahrheit. Und ich konnte nichts tun als zurückschauen, ohne so recht zu wissen, was meine Wahrheit war … Aber wie sie auch immer aussah, ich war gern bereit, sie ihn sehen zu lassen. Und wenn er etwas hätte sagen wollen, wäre das für mich auch völlig in Ordnung gewesen. Aber er sagte nichts, nahm nur noch mal einen kleinen Schluck Kognak, hustete leise und lehnte sich dann langsam auf seinem Stuhl zurück.
»Ich habe Bishop in den Nachrichten gesehen«, sagte er.
»Deshalb bin ich hier.«
»Ich weiß. Erzähl mir alles.«
Also erzählte ich ihm die ganze Geschichte – von dem Moment an, als Helen Gerrish in mein Büro kam, bis zu Bishops unerwartetem Besuch vor ein paar Stunden … ich beschrieb Leon alles. Er hörte schweigend zu, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, ohne ein Wort, bis ich fertig war. Und selbst dann, als er langsam den Kopf hob und die Augen öffnete, sagte er eine Weile immer noch nichts. Er sah mich nur tief in Gedanken versunken an und verarbeitete alles, was ich erzählt hatte … danach nahm er das Kognakglas, trank einen mäßigen Schluck, leckte sich die Lippen, stellte das Glas wieder ab und schließlich – nachdem er sich vorsichtig geräuspert hatte – stieß er einen tiefen Seufzer aus und begann zu reden.
»Wieso bist du nicht früher damit zu mir gekommen?«, fragte er mich.
Ich zuckte die Schultern. »Ich hatte nichts Konkretes … keinen Beweis.«
»Jetzt hast du auch keinen. Das Einzige, was du hast, ist ein totes Mädchen, Viners DNA und einen Bauch voll mieser Gefühle wegen Bishop.«
»Ich weiß , dass Viner Anna nicht getötet hat«, sagte ich langsam und schaute Leon in die Augen. »Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich.«
Einen Moment lang antwortete Leon nicht, sondern erwiderte nur meinen Blick, und wie er so dasaß und mich anschaute, versuchte ich, ihn die unausgesprochene Frage in meinem Kopf sehen zu lassen. Warst du es, Leon? Hast du mir damals, vor langer Zeit, die Nachricht geschickt? Weißt du, was ich mit ihm gemacht habe?
»Was wir dringend herausfinden müssen«, sagte er leise, die unausgesprochene Frage weder beantwortend noch nicht beantwortend, »ist, wieso Bishop dich anlügt. Das ist der Schlüssel zum Ganzen.« Er öffnete seinen Laptop und drückte ein paar Tasten. »Bishop ist bei Weitem nicht so eindimensional, wie er die Menschen gern annehmen lässt. Glaub mir, ich kenne ihn schon sehr lange und es hat Jahre gedauert, bis ich begriff, dass er auf seine verdrehte Weise ein sehr komplizierter Mensch ist.« Leon sah mich über den Bildschirm hinweg an. »Ich fürchte, du wirst mir nicht zustimmen, wenn ich dir sage, er ist ein hochintelligenter Mann?«
»Kommt drauf an, was du unter intelligent verstehst«, antwortete ich. »Ich bezweifle jedenfalls, dass er bei University Challenge weit kommen würde.«
»Stimmt«, sagte Leon lächelnd. »Aber in den letzten dreißig Jahren ist er weit gekommen – sowohl als Polizeibeamter wie auch als höchst effizienter Verbrecher, und da gehört schon was dazu.«
»Du glaubst, er ist kriminell?«
»Ich weiß es.« Leon warf einen Blick auf den Bildschirm, dann schaute er wieder zu mir. »Korruption ist ein Verbrechen, John. Es ist nicht einfach ein Vertrauensbruch oder Machtmissbrauch, ein Beugen der Regeln … es ist ein Verbrechen. Ein korrupter Polizist ist ein Krimineller, so einfach ist das. Und Bishop … na ja, komm her und sieh es dir an, schau einfach selbst.«
Während ich aufstand und zu seinem Schreibtisch hinüberging, richtete Leon den Laptop so aus, dass wir beide den Bildschirm betrachten konnten. Zuerst begriff ich nicht recht, was ich sah, doch als ich genauer hinschaute, wurde mir klar, dass es ein Standbild aus einem Video von sehr schlechter Qualität sein musste. Die Auflösung war katastrophal, alles total unscharf und die Farbe mehr grau in grau als schwarzweiß. Trotzdem konnte ich die
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