Schlaflos in Seoul
Unterricht von den sogenannten Wildgans-Vätern. So nennt man Männer, die ihre Familien in die USA
oder nach Kanada schicken, damit die Kinder dort perfektes Englisch lernen. Die Väter überweisen den Großteil ihres Gehalts
an ihre Ehefrau im Ausland, während sie spartanisch in winzigen Einzimmerwohnungen in Seoul leben. Wie Zugvögel machen sich
diese Väter einmal im Jahr – meist im Sommer oder zu Weihnachten – auf, um ihre Familien zu besuchen. Wie diese Treffen ablaufen,
verriet Mr. Park nicht, aber es bedarf nicht viel Phantasie es sich auszumalen.
In dem koreanischen Film ›Ein glückliches Leben‹ geht es um einen solchen Wildgans-Vater, der in Korea bis zur Erschöpfung
arbeitet und von Kanada – das für viele Koreaner als das gelobte Land gilt – träumt. Die Familie hat sich dort ein neues Leben
aufgebaut, in dem der koreanische Vater nur noch als Geldgeber von Bedeutung ist. Seine Frau hat längst einen anderen Mann
gefunden und die Kinder können kaum noch Koreanisch sprechen. Der Film war in Korea nicht besonders erfolgreich. Die Moral
der Geschichte stößt in Korea im Moment auf taube Ohren. Wer will schon hören, dass »ein glückliches Leben« eventuell wichtiger
sein könnte als perfekte Englischkenntnisse?
|107| Erst wenn der Chef geht, ist Feierabend
Es war Freitagabend, 23 Uhr. Ich saß mit Joe in einer schäbigen Studentenbar, die ich mochte, weil sie mich an Friedrichshain erinnerte. Er trank
Bier, ich Wodka-Cocktails. Wir unterhielten uns – bis Joes Telefon klingelte. In Korea hat fast niemand mehr – außer ein paar
altmodischen Ausländern – einen einfachen Klingelton. Bei eingehenden Anrufen werden Lieder gespielt. Viele teilen die Anrufer
nach Gruppen ein: Joe hatte unterschiedliche Lieder für seine Freunde, Familie, Kollegen und für mich. Als eine ätherische
Frauenstimme »This is not a love song« hauchte, wusste ich sofort, dass der Anruf von Joes Firma kam. Joe antwortete freundlich
und dienstbeflissen und gab schließlich eine Telefonnummer durch.
»Warum rufen sie dich noch so spät an?«, wollte ich wissen.
»Eine Kollegin braucht die Telefonnummer eines Professors, den wir zu einem Symposium nach Taiwan geschickt haben«, sagte
er.
»Um 23 Uhr?«
»Was weiß ich? Ich verstehe sowieso nicht, wozu sie die Nummer braucht. Der Professor hat gesagt, dass er in Taiwan sein Telefon
nicht benutzen wird.«
»Warum hast du ihr die Nummer dann gegeben?«
»Weil sie darauf bestanden hat.«
Für mich machte das alles keinen Sinn. Ich vermutete, dass diese Kollegin privat an Joe interessiert war und einfach wissen
wollte, was er Freitagabend machte. Er behauptete aber, das sei Unsinn.
|108| Kurz nachdem ich nach Korea gekommen war, hatte Joe angefangen, für eine amerikanische Firma zu arbeiten. Ich hatte noch nie
davon gehört, dass in westlichen Firmen Angestellte zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen werden. Also vermutete ich, dass
es sich um eine Besonderheit der koreanischen Geschäftskultur handelte, die auch ausländische Firmen in Korea praktizierten.
Angestellte haben zu jeder Zeit verfügbar zu sein und müssen auch schon einmal ihr Privatleben hinter den Interessen der Firma
zurückstellen. Wenn ein Geschäftsessen kurzfristig angesetzt wird, muss jede private Verabredung, egal wie wichtig sie sein
mag, abgesagt werden. So manches koreanische Kind hat schon bittere Tränen vergossen, weil sein Vater nicht, wie versprochen,
zu Schulaufführungen, Ballettabenden und Preisverleihungen kommen konnte. Der Vater wurde in der Firma aufgehalten oder von
seinem Vorgesetzten gezwungen, mit ihm nach Feierabend trinken zu gehen.
Das Leben koreanischer Arbeitnehmer wird von den Launen ihrer Chefs bestimmt. Flache Hierarchien sind in Korea unbekannt.
Koreanische Chefs regieren wie kleine Diktatoren ihr Büro. Was sie sagen, wird nicht als Vorschlag oder Anregung angesehen,
sondern als Gesetz. Dienstältere zu duzen oder mit Vornamen anzusprechen, ist undenkbar. Mit Vorgesetzten wird im Honorativ,
in der höchsten Höflichkeitsstufe, gesprochen. Abends verlässt vor dem Chef niemand das Büro. Erst wenn der Chef geht, ist
Feierabend.
Das Gleiche gilt für Geschäftsessen und Firmenveranstaltungen. Die Dienstältesten haben das Privileg zu kommen und zu gehen,
wie es ihnen gefällt. Berufsanfänger sind die schwächsten Glieder und haben weder Privilegien noch Rechte. Sie müssen warten,
bis alle
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