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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Hohleiter
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Ranghöheren nach Hause gegangen sind, erst dann dürfen sie sich selbst auf den Heimweg machen. Manchmal warten sie
     ziemlich lange. Merkwürdigerweise haben viele koreanische Chefs keine Lust, früh nach Hause zu gehen. »Mein Chef kommt mit
     seiner Frau nicht klar«, erklärte |109| mir mein Freund Arnaud. Er arbeitete für die koreanische Niederlassung einer französischen Firma, die Brillengläser herstellt.
     »Er versucht, seiner Frau so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Eigentlich scheint er überhaupt kein Privatleben zu haben –
     keine Freunde, keine Hobbys, nichts. Er langweilt sich abends einfach, deshalb schlägt er dauernd Geschäftsessen vor.« Als
     einer der wenigen Ausländer in der Firma hatte Arnaud einen Sonderstatus, den er ausnutzte. Wenn er keine Lust hatte auf Abendessen
     oder Wochenendaktivitäten mit seinem Chef und den Kollegen, behauptete er einfach, andere Pläne zu haben. Von einem Ausländer
     wird so eine Entschuldigung akzeptiert – wenn auch mit der süffisanten Bemerkung, Europäer seien eben sehr »individualistisch«.
     In Korea ist »individualistisch« ein Synonym für »egoistisch«.
    Für Arnauds koreanische Kollegen gab es kein Entrinnen. Wenn der Chef einmal wieder seiner Frau aus dem Weg gehen wollte,
     mussten sie ihm zu Diensten sein. Einmal organisierte Arnauds Chef einen Firmenausflug auf die Insel Jeju. Im Sommer ist Jeju
     ein tropisches Ferienparadies, dieser Ausflug sollte jedoch im Winter stattfinden. Arnauds Chef teilte die Leidenschaften
     viele Koreaner: Barbecue und Musik. Er schlug vor, am Strand zu grillen und Lieder zu singen. In Jeju fällt im Winter zwar
     kein Schnee, aber es kühlt sich merklich ab. Die Angestellten fanden eine Ausrede und der Chef saß abends alleine in der Kälte
     am Strand. Am nächsten Tag rächte er sich. Er besorgte eine höllisch-scharfe Chilisoße und schlug ein »Spiel« vor. Da die
     Angestellten wussten, dass sie den Chef verärgert hatten, traute sich niemand abzulehnen.
    Das »Spiel« bestand darin, dass der Chef seinen Finger in die Chilisoße tauchte und jeder Angestellte, schön der Reihe nach,
     nach vorne kommen und den Finger ablecken musste. Niemand fand das lustig. Doch egal wie eklig oder absurd die Spielchen sind,
     die sich koreanische Chefs ausdenken, sie stoßen selten auf Widerstand.
    |110| In Korea hat ein Arbeitnehmer nur begrenzte Rechte. Wer mehr Geld, mehr Freizeit oder mehr Respekt von seinem Chef möchte,
     wird meist recht deutlich darauf hingewiesen, dass man jederzeit einen neuen, weniger widerspenstigen Angestellten finden
     könne. Und meist stimmt das auch. Das Sozialsystem in Korea oder vielmehr das weitgehende Fehlen eines Sozialsystems macht
     Renitenz schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Wer in Korea seine Arbeit verliert, ist mehr oder weniger auf die Unterstützung
     seiner Familie angewiesen. Solange die Familie bereit oder überhaupt in der Lage ist, diese zu gewähren, ist das Problem noch
     überschaubar. Wer jedoch nicht aus einer wohlhabenden Familie kommt, überlegt es sich zweimal, ob er es auf eine Konfrontation
     mit seinem Chef ankommen lässt oder nicht. Die meisten koreanischen Chefs sind sich dieser Situation bewusst und nützen die
     missliche Lage ihrer Angestellten schamlos aus.
    In Korea werden Angestellte häufig mit Arbeit überschüttet, weil man der Meinung ist, Überforderung sporne zu Höchstleistungen
     an. Offiziell wird in koreanischen Firmen von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends gearbeitet. Die vertraglich festgesetzten
     Konditionen und die Realität des Büroalltags haben oft jedoch wenig miteinander zu tun. Mancher deutsche Chef würde sich vielleicht
     Angestellte mit koreanischem Arbeitsethos wünschen. In Korea gilt Faulheit fast als Sünde. Koreanische Angestellte lassen
     eine angefangene Arbeit nicht einfach liegen und gehen nicht um Punkt sechs Uhr nach Hause.
    Manchmal, wenn ich spätabends von einer Party mit der U-Bahn nach Hause fuhr, sah ich abgearbeitete, todmüde Anzugträger, deren Gesichter so grau waren wie ihre Anzüge. Sie schliefen
     in der U-Bahn vor Erschöpfung ein. Unter der Woche fährt die U-Bahn bis ein Uhr nachts, an Wochenenden bis Mitternacht. Meiner Meinung nach wäre es logischer gewesen, wenn die U-Bahn – wie in Berlin – am Wochenende die ganze Nacht gefahren wäre. Ich fragte Joe, warum der öffentliche |111| Nahverkehr am Wochenende, wenn die Leute ausgehen, nachts so eingeschränkt war. Er sah mich verdutzt

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