Schlaflos - Insomnia
Herauszufinden, dass ich , während ich dort saß und die Straße beobachtet habe, selbst beobachtet wurde.«
Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln, das besagen konnte: Keine Bange, Ralph - für mich warst du nichts weiter als ein Teil der Landschaft.
Er dachte einen Moment über das Lächeln nach, dann kam er wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Also, was ist passiert, Lois? Warum hast du hier gesessen und geweint? Nur Schlaflosigkeit? Wenn es nur das war, kann ich mit Sicherheit mit dir fühlen. Aber so was wie ›nur‹ gibt es dabei nicht, was?«
Ihr Lächeln erlosch. Sie faltete die Hände in den Handschuhen wieder im Schoß und betrachtete sie ernst. »Es gibt Schlimmeres als Schlaflosigkeit. Verrat, zum Beispiel. Besonders wenn die Menschen, die dich verraten, die Menschen sind, die du liebst.«
2
Sie verstummte. Ralph drängte sie nicht. Er sah den Hügel hinunter zu Rosalie, die ihn zu beobachten schien. Möglicherweise sie beide.
»Hast du gewusst, dass wir nicht nur dasselbe Problem, sondern auch denselben Arzt haben?«
»Du gehst auch zu Litchfield?«
»Ich ging zu Litchfield. Auf Empfehlung von Carolyn. Aber ich werde nie wieder zu ihm gehen. Wir sind fertig miteinander.« Sie fletschte die Oberlippe. »Der hinterhältige Dreckskerl! «
»Was ist passiert?«
»Ich habe fast ein Jahr lang darauf gewartet, dass es von allein wieder besser werden würde - dass die Natur ihren Lauf nimmt, wie man so sagt. Nicht dass ich nicht hier und da versucht hätte, der Natur auf die Sprünge zu helfen. Wahrscheinlich haben wir beide häufig dieselben Mittel ausprobiert.«
»Honigwabe?«, fragte Ralph, der wieder lächelte. Er konnte nicht anders. Was für ein erstaunlicher Tag das gewesen ist, dachte er. Was für ein durch und durch erstaunlicher Tag … und dabei ist es noch nicht einmal ein Uhr mittags.
»Honigwabe? Was ist damit? Hilft das?«
»Nein«, sagte Ralph und grinste breiter denn je, »es hilft kein bisschen, aber es schmeckt köstlich .«
Sie lachte und drückte seine linke Hand mit ihren beiden. Ralph erwiderte das Drücken.
»Du bist deswegen nie bei Litchfield gewesen, Ralph, oder?«
»Nee. Ich hatte mal einen Termin vereinbart, hab ihn aber abgesagt.«
»Bist du nicht hingegangen, weil du ihm nicht getraut hast? Weil du der Meinung warst, dass er bei Carolyn gepfuscht hat?«
Ralph sah sie überrascht an.
»Vergiss es«, sagte Lois. »Ich hatte kein Recht, das zu fragen.«
»Nein, schon gut. Es überrascht mich nur, dass ich das von jemand anderem höre. Dass er … du weißt … eine falsche Diagnose gestellt haben könnte.«
»Ha!« Lois’ hübsche Augen blitzten. »Das haben wir uns alle gedacht! Bill hat gesagt, er könne nicht begreifen, dass du den dreckigen Kurpfuscher nicht am Tag nach Carolyns Beerdigung vor das Bezirksgericht gezerrt hast. Aber damals stand ich selbstverständlich noch auf der anderen Seite des Zauns und habe Litchfield wie verrückt verteidigt. Hast du je daran gedacht, ihn zu verklagen?«
»Nein. Ich bin siebzig, und ich will die Zeit, die mir noch bleibt, nicht mit einem Kunstfehlerprozess verschwenden. Außerdem - würde es Carol zurückbringen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ralph sagte: »Aber was mit Carolyn passiert ist, war der Grund, dass ich nicht mehr zu ihm gegangen bin. Glaube ich jedenfalls. Ich konnte ihm einfach nicht mehr vertrauen, oder vielleicht … ich weiß auch nicht …«
Nein, er wusste es wirklich nicht, das war das Teuflische daran. Er wusste nur, er hatte den Termin bei Dr. Litchfield abgesagt, ebenso den bei James Roy Hong, in manchen
Kreisen auch als der Nadelpikser bekannt. Den letzteren Termin hatte er auf Anraten eines zwei- oder dreiundneunzigjährigen Mannes abgesagt, der sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an seinen zweiten Vornamen erinnern konnte. Seine Gedanken schweiften zu dem Buch ab, das ihm der alte Dor gegeben hatte, und zu dem Gedicht, aus dem er zitiert hatte - »Pursuit« hatte es geheißen, und es ging Ralph nicht mehr aus dem Kopf … besonders der Teil, wo der Dichter alles hinter sich wegfallen sah: die ungelesenen Bücher, die unerzählten Witze, die Reisen, die er nie unternehmen würde.
»Ralph? Bist du noch da?«
»Ja, ich habe bloß über Litchfield nachgedacht. Mich gefragt, warum ich den Termin abgesagt habe.«
Sie tätschelte seine Hand. »Sei froh, dass du es getan hast. Ich hab meinen wahrgenommen.«
»Sag mir, was passiert ist.«
Lois zuckte die Achseln. »Als es so
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