Schlaflos - Insomnia
Kindern geheim zu halten. Das läge nicht in unserem Interesse, verstehst du.
Carl Litchfield hat praktisch in dem Moment, als ich das Sprechzimmer verlassen habe, Harold in Bangor angerufen. Er hat gesagt, ich könnte nicht schlafen, ich hätte Depressionen und dass ich unter der Art sensorischer Störungen litt, die mit einer verfrühten Verschlechterung der Kognition einhergingen. Und dann hat er gesagt: ›Sie dürfen nicht vergessen, dass Ihre Mutter in einem hohen Alter ist, Mr. Chasse, und ich an Ihrer Stelle würde mir ernste Gedanken über ihre Situation hier in Derry machen.‹«
»Das hat er nicht!«, rief Ralph fassungslos und entsetzt. »Ich meine … ernsthaft?«
Lois nickte grimmig. »Er sagte es Harold, und Harold sagte es mir, und ich sage es jetzt dir. Ich altes Dummerchen, ich wusste nicht mal, was unter ›einer verfrühten Verschlechterung der Kognition‹ zu verstehen ist, und keiner der beiden wollte es mir sagen. Ich habe ›Kognition‹ im Wörterbuch nachgeschlagen, und weißt du, was es bedeutet?«
»Denken«, sagte Ralph. »Kognition ist Denken.«
»Richtig. Mein Arzt hat meinen Sohn angerufen und ihm gesagt, dass ich senil werde!« Lois lachte wütend und wischte sich mit Ralphs Taschentuch frische Tränen von der Wange.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte Ralph, aber das Teuflische war, er konnte es. Seit dem Tod von Carolyn wurde ihm klar, dass die Naivität, mit der er die Welt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr betrachtet hatte, offenbar nicht für immer verschwunden war, als er die Schwelle zwischen Kind und Mann überschritten hatte; diese spezielle Arglosigkeit schien sich wieder einzustellen, seit er die Schwelle zwischen Mann und altem Mann überschritten hatte. Immer wieder erlebte er Überraschungen … aber Überraschungen war ein zu zahmes Wort. Die meisten hauten ihn völlig von den Socken.
Die kleinen Fläschchen unter der Kussbrücke, zum Beispiel. Eines Tages im Juli hatte er einen langen Spaziergang zum Bassey-Park gemacht und war unter die Brücke gegangen, um eine Weile aus der Nachmittagssonne herauszukommen. Kaum hatte er es sich gemütlich gemacht, war ihm ein kleiner Haufen Glasscherben im Unkraut bei dem Bach aufgefallen, der unter der Brücke dahinfloss. Er hatte das hohe Gras mit einem Ast geteilt und sechs oder acht kleine Ampullen bemerkt. In einer klebte noch eine verkrustete weiße Substanz am Boden. Ralph hatte sie aufgehoben, und als er sie behutsam vor den Augen gedreht hatte, war ihm klar geworden, dass er die Überreste einer Crackparty vor sich sah. Er hatte die Ampulle fallen gelassen, als wäre sie glühend heiß. Er konnte sich immer noch an den lähmenden Schock erinnern, an die vergeblichen Versuche, so zu tun, als wäre er nicht recht
bei Trost, dass es unmöglich sein konnte, wofür er es hielt, nicht in dieser Hinterwäldlerstadt, die zweihundertfünfzig Meilen nördlich von Boston lag. Selbstverständlich war nur der wieder auferstandene Naive geschockt gewesen; der Teil von ihm, der zu glauben schien (jedenfalls, bis er die Ampullen unter der Brücke fand), dass die ganzen Meldungen über die Kokainepidemie nichts als Unsinn waren, dass sie ebenso wenig der Wirklichkeit entsprachen wie ein Fernsehkrimi oder ein Film mit Jean-Claude Van Damme.
Jetzt verspürte er einen ähnlichen Schock.
»Harold sagte, sie wollten mich nach Bangor bringen und mir ›die Anlage zeigen‹«, sagte Lois. »Heutzutage fährt er nicht mehr mit mir weg, er ›bringt‹ mich nur noch irgendwohin. Als wäre ich ein Botengang. Sie hatten eine Menge Broschüren dabei, und als Harold Janet zunickte, hat sie sie so schnell vor mir ausgebreitet …«
»Puh, langsam. Was für eine Anlage? Was für Broschüren?«
»Tut mir leid, ich mache ein bisschen zu schnell, was? Es ist ein Anlage in Bangor, die Riverview Estates heißt.«
Ralph kannte den Namen; er hatte sogar selbst schon eine Broschüre bekommen. Eine dieser Postwurfsendungen, die Leute über fünfundsechzig bekamen. Er und McGovern hatten darüber gelacht … aber das Lachen war ein klein wenig nervös gewesen - wie das Pfeifen von Kindern, die am Friedhof vorbeilaufen.
»Scheiße, Lois - das ist ein Altersheim, richtig?«
»Nein, Sir! «, sagte sie und riss unschuldig die Augen auf. »Das habe ich auch gesagt, aber Harold und Janet haben mich aufgeklärt. Nein, Ralph, Riverview Estates ist ein
Apartmentkomplex für geselligkeitsorientierte Senioren! Als Harold das sagte, antwortete ich: ›Ist
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