Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Schaum troff von ihren Lefzen. Ralph hatte in seinem ganzen Leben noch nie ein so durch und durch verängstigtes Geschöpf gesehen.
    »Lauf!«, schrie Ralph. »Lauf weg!«
    Sie schien ihn nicht zu hören, und nach wenigen Augenblicken wurde Ralph klar, dass sie ihn tatsächlich nicht hören konnte, weil Rosalie nicht mehr ganz da war. Der kahlköpfige Arzt hatte schon etwas mit ihr angestellt - er hatte sie zumindest teilweise aus der gewöhnlichen Wirklichkeit herausgezogen wie ein Farmer, der einen Baumstumpf mit dem Traktor und einer Kette herauszieht.
    Ralph versuchte es trotzdem noch einmal.
    [»Lauf, Rosalie! Lauf weg!«]
    Diesmal spitzte sie die angelegten Ohren und drehte den Kopf langsam in Ralphs Richtung. Er erfuhr aber nie, ob sie ihm gehorchen wollte oder nicht, denn der kahlköpfige Mann ergriff das Tuch wieder, bevor sie sich in Bewegung setzen konnte. Er riss ihren Kopf wieder hoch.

    »Er wird sie umbringen!«, kreischte Lois. »Er wird ihr mit diesem Ding die Kehle durchschneiden! Lass es nicht zu Ralph! Du musst ihn daran hindern!«
    »Ich kann nicht! Vielleicht kannst du es! Schieß auf ihn! Schieß mit deiner Hand auf ihn!«
    Sie sah ihn verständnislos an. Ralph machte eine verzweifelte Holzhacker-Geste mit der rechten Hand, aber bevor Lois ihrerseits die Hand heben konnte, stieß Rosalie ein grässliches, hilfloses Heulen aus. Der kahlköpfige Arzt hob das Skalpell und ließ es herunterfahren, aber er schnitt nicht Rosalies Kehle durch.
    Er schnitt ihre Ballonschnur durch.

2
    Zwei Fäden schwebten aus Rosalies Nasenlöchern in die Höhe. Sie verflochten sich etwa zwei Handbreit über der Schnauze und bildeten einen zierlichen Zopf, und genau an dieser Stelle verrichtete das Skalpell von Kahlkopf Nr. 3 seine Arbeit. Ralph sah starr vor Entsetzen, wie der abgeschnittene Zopf dem Himmel entgegenschwebte wie die Schnur eines losgelassenen Heliumballons. Dabei wand er sich auseinander. Ralph dachte, er würde sich in den Zweigen der alten Kiefer verfangen, aber es kam anders. Als die aufsteigende Ballonschnur schließlich den ersten Zweig erreichte, ging sie einfach durch ihn hindurch.
    Logisch, dachte Ralph. So wie die Kumpels dieses Burschen durch May Lochers abgesperrte Eingangstür gegangen sind, nachdem sie mit ihr dasselbe gemacht hatten.

    Diesem Einfall folgte ein Gedanke, der zu einfach und grausam logisch war, als dass er ihn hätte verwerfen können: keine Außerirdischen, keine kleinen kahlköpfigen Ärzte, sondern Zenturionen. Ed Deepneaus Zenturionen. Sie sahen nicht wie die römischen Soldaten aus, die man in Blechhosen-Epen wie Spartacus oder Ben Hur sah, richtig, aber sie mussten Zenturionen sein, oder nicht?
    Sechzehn oder zwanzig Fuß über dem Boden verblasste Rosalies Ballonschnur einfach und verschwand.
    Ralph senkte den Blick gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der kahlköpfige Gnom dem Hund das verblichene blaue Tuch über den Kopf zog und ihn dann zum Baumstamm schubste. Ralph betrachtete die Hündin eingehender und spürte, wie sich sein ganzes Fleisch fester über den Knochen zusammenzog. Sein Traum von Carolyn wurde ihm mit unerbittlicher Grausamkeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und er hielt nur mühsam einen Schrei des Entsetzens zurück.
    Ganz recht, Ralph, nicht schreien. Das solltest du nicht tun, denn wenn du erst einmal angefangen hast, kannst du vielleicht nicht mehr aufhören - du schreist vielleicht einfach weiter, bis es dir die Kehle zerreißt. Denk an Lois, denn sie steckt jetzt auch mit drin. Denk an Lois und fang nicht an zu schreien.
    Ah, aber das fiel ihm schwer, denn die Käfer aus dem Traum, die aus Carolyns Kopf gequollen waren, kamen jetzt als zuckende schwarze Ströme aus Rosalies Nasenlöchern.
    Das sind keine Käfer. Ich weiß nicht, was sie sind, aber es sind keine Käfer.

    Nein, keine Käfer - nur eine andere Art von Aura. Albtraumhaftes schwarzes Zeug, weder Flüssigkeit noch Gas, wurde mit jedem Atemzug aus Rosalie herausgepumpt. Es schwebte nicht davon, sondern umgab sie als träge, widerliche Schnörkel von Anti-Licht. Diese Schwärze hätte sie eigentlich den Blicken entziehen müssen, aber das tat sie nicht. Ralph konnte den flehenden, verängstigten Ausdruck in ihren Augen sehen, während die Schwärze sich um ihren Kopf sammelte und ihr dann an Rücken, Flanken und Beinen hinablief.
    Es war ein Leichentuch, ein echtes Leichentuch diesmal, und er wurde Zeuge, wie Rosalie, deren Ballonschnur durchtrennt war, es unablässig um sich

Weitere Kostenlose Bücher