Schlaflos - Insomnia
vor seinem Geschäft stehen hatte, mit Taschenbüchern in grellen Umschlägen. Die alte Maiskolbenpfeife - für Ralph hatte sie immer wie der Schlot eines Modellbaudampfers ausgesehen - hing ihm im Mundwinkel und stieß kleine Wölkchen blauen Rauchs in die heiße, klare Luft aus. Winston Smith, sein alter grauer Kater, saß in der offenen Tür des Geschäfts und hatte den Schwanz um die Pfoten gewickelt. Er sah Ralph mit gleichgültigen gelben Augen an, als wollte er sagen: Du glaubst, dass du weißt, wie es ist, alt zu sein? Ich bin hier, um dir zu beweisen, dass du keinen blassen Schimmer hast, wie es ist, alt zu sein.
»Mann, Ralph«, sagte Davenport. »Ich hab deinen Namen mindestens dreimal gerufen.«
»Ich schätze, ich hab vor mich hingeträumt«, sagte Ralph. Er ging an dem Büchereiwagen vorbei, lehnte sich an den Türrahmen (Winston Smith behielt seinen Platz mit königlichem Desinteresse bei) und nahm die beiden Zeitungen, die er jeden Tag kaufte: den Boston Globe und USA Today . Dank Pete, dem Zeitungsjungen, kam die Derry News direkt ins Haus. Er erzählte den Leuten manchmal, dass er eine der drei Zeitungen nur zur Erheiterung las, aber er hatte sich nie entscheiden können, welche das war. »Ich habe in …«
Er verstummte, als Ed Deepneaus Gesicht vor seinem inneren Auge erschien. Von Ed hatte er das garstige kleine Lied im letzten Sommer gehört, draußen am Flughafen, und es war kein Wunder, dass er eine Weile gebraucht hatte, bis er die Erinnerung ausgegraben hatte. Ed Deepneau war der letzte Mensch auf der Welt, von dem man so etwas zu hören erwartete.
»Ralphie?«, sagte Davenport. »Du hast gerade wieder abgeschaltet.«
Ralph blinzelte. »Oh, entschuldige. Ich habe in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen, wollte ich sagen.«
»Ärgerlich … aber es gibt schlimmere Probleme. Trink ein Glas warme Milch und hör dir eine halbe Stunde, bevor du ins Bett gehst, ruhige Musik an.«
Ralph hatte in diesem Sommer nach und nach festgestellt, dass jeder in Amerika offenbar ein Lieblingsmittel gegen Schlaflosigkeit hatte, eine Art Schlafzauber, der seit Generationen weitergereicht wurde wie die Familienbibel.
»Bach ist gut, Beethoven ebenso, und William Ackerman ist auch nicht schlecht. Aber der wahre Trick …« Davenport hob beschwörend einen Finger, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »… besteht darin, während dieser halben Stunde nicht vom Sessel aufzustehen . Um nichts auf der Welt. Geh nicht ans Telefon, zieh den Hund nicht auf und lass den Wecker nicht raus, komm nicht auf die Idee, dir die Zähne zu putzen … nichts! Und wenn du dann ins Bett gehst … bumm! Bist du sofort weg!«
»Und wenn man in seinem Lieblingssessel sitzt und plötzlich feststellt, dass einen die Natur ruft?«, fragte Ralph. »Das kann ziemlich schnell gehen, wenn man in meinem Alter ist.«
»Dann mach in die Hose«, antwortete Davenport, ohne mit der Wimper zu zucken und fing an zu lachen. Ralph lächelte, aber mehr aus Pflichtgefühl. Seine Schlaflosigkeit war mittlerweile kein bisschen spaßig mehr für ihn. »In die Hose! «, prustete Ham. Er schlug auf den Büchereiwagen und schüttelte den Kopf.
Ralph sah auf die Katze hinunter. Winston Smith erwiderte den Blick gelassen, und für Ralph schienen die ruhigen gelben Augen zu sagen: Ja, genau, er ist ein Trottel, aber er ist mein Trottel.
»Nicht schlecht, hm? Hamilton Davenport, der Meister der schlagfertigen Antwort. Mach in die …« Er schnaubte wieder vor Lachen, schüttelte den Kopf und nahm die beiden Dollarscheine, die Ralph ihm entgegenstreckte. Er steckte sie in die Tasche seiner kurzen roten Schürze und gab etwas Wechselgeld heraus. »Kommt das hin?«
»Auf jeden Fall. Danke, Ham.«
»Hmhm. Spaß beiseite, versuch das mit der Musik. Es funktioniert wirklich. Glättet die Hirnwellen oder so was.«
»Mach ich.« Und das Vertrackte daran war, er würde es wahrscheinlich wirklich ausprobieren, so wie er schon Mrs. Rapaports Zitrone-und-heißes-Wasser-Rezept und Shawna McClures Rat probiert hatte, seinen Kopf frei zu machen, indem er seine Atmung verlangsamte und sich auf das Wort cool konzentrierte (nur wenn Shawna das Wort aussprach, hörte es sich wie cuhhhh-ooooooooooool an). Wenn man es mit einer langsamen, aber unbarmherzigen Erosion seines gesunden Schlafs zu tun hatte, sah jedes Hausmittel gut aus.
Ralph wollte sich abwenden, überlegte es sich dann aber anders. »Was ist mit diesem Plakat nebenan?«
Ham Davenport
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