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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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mehr nach Erbrechen zumute. Mehr zum Weinen.
    Atropos erhob sich langsam auf die Knie und sah sich mit den benommenen Augen eines Mannes um, der einen ungeheuren Sturm überlebt hat. Er sah sein Ohr auf dem Boden liegen und hob es auf. Er drehte es in seinen kleinen Händen und betrachtete die Knorpelstränge an der Rückseite. Dann sah er zu Ralph auf. Tränen des Schmerzes und der Demütigung schwammen in seinen Augen, aber es war auch noch etwas anderes darin zu sehen - eine so ungeheure und tödliche Wut, dass Ralph davor zurückschrak. Seine Vorsichtsmaßnahmen und Vorkehrungen wirkten angesichts dieser Wut lächerlich unzureichend und albern. Er wich einen taumelnden Schritt zurück und zeigte mit einem zitternden Finger auf Atropos.
    [»Denk an dein Versprechen.«]
    Atropos fletschte die Zähne zu einem tückischen Grinsen. Der Hautlappen an der Seite seines Gesichts schwang hin und her wie ein schlaffes Segel, das rohe Fleisch darunter nässte und blutete.
    [Selbstverständlich denke ich daran - wie könnte ich es vergessen? Ich werde dir sogar noch eines machen. Zwei zum Preis von einem, könnte man sagen.]
    Atropos machte eine Geste, an die sich Ralph noch deutlich vom Dach des Krankenhauses erinnerte, er spreizte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zu einem V und schnippte sie nach oben, sodass ein roter Bogen in der Luft entstand. Darin erkannte Ralph eine menschliche Gestalt.
Dahinter, undeutlich wie durch einen Nebel aus Blutstropfen, war das Red Apple zu sehen. Er wollte fragen, wer da im Vordergrund am Bordstein der Harris Avenue stand … und dann wusste er es plötzlich. Er sah Atropos mit erschrockenen Augen an.
    [»Himmel, nein! Das kannst du nicht!«]
    Das Grinsen auf Atropos’ Gesicht wurde noch breiter.
    [Weißt du, das hatte ich auch von dir gedacht, Kurzer. Aber ich habe mich geirrt. Ebenso wie du. Pass auf.]
    Atropos bewegte die gespreizten Finger ein Stück weiter auseinander. Ralph sah jemand mit einer Baseball-mütze der Boston Red Sox aus dem Red Apple kommen, und diesmal wusste Ralph sofort, wen er vor sich sah. Diese Person rief der anderen auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas zu, und dann spielte sich etwas Schreckliches ab. Ralph wandte sich voller Entsetzen von dem blutigen Bogen der Zukunft zwischen Atropos’ kleinen Fingern ab.
    Aber er hörte, als es passierte.
    [Die Person, die ich dir zuerst gezeigt habe, gehört dem Zufall, Kurzer - mit anderen Worten, mir. Und nun kommt mein Versprechen: Wenn du mir weiterhin in die Quere kommst, wird passieren, was ich dir gerade gezeigt habe. Du kannst nichts dagegen tun, keine Warnung aussprechen, die es verhindern wird. Aber wenn du jetzt aufgibst - wenn du und die Frau, wenn ihr beide einfach zur Seite tretet und die Ereignisse ihren Lauf nehmen lasst -, dann verzichte ich darauf.]
    Die Obszönitäten, die einen solch großen Teil von Atropos üblichen Sprüchen bildeten, waren abgestreift worden wie ein gebrauchtes Kostüm, und zum ersten Mal hatte
Ralph eine klare Vorstellung davon, wie wahrhaft alt und auf bösartige Weise gerissen dieses Wesen war.
    [Denk daran, was die Junkies sagen, Kurzer: Sterben ist leicht, Leben ist hart. Das ist ein wahres Sprichwort. Wenn einer das wissen muss, dann ich. Also, was meinst du? Kommen dir Zweifel?]
    Ralph stand mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten in der schmutzigen Kammer. Lois’ Ohrringe brannten in einer Hand wie kleine, heiße Kohlen. Auch Eds Ring schien an seinem Körper zu brennen, und er wusste, nichts auf der Welt würde ihn daran hindern, ihn aus der Tasche zu holen und wie das Skalpell ins Nebenzimmer zu werfen. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die er vor etwa tausend Jahren in der Schule gelesen hatte. Sie trug den Titel »Die Dame - oder der Tiger?«, und nun verstand er, wie es war, wenn man eine solch schreckliche Macht besaß … und vor einer so schrecklichen Entscheidung stand. Oberflächlich betrachtet schien es einfach zu sein; was war schon ein Leben verglichen mit zweitausend?
    Aber dieses eine Leben …!
    Allerdings ist es ja nicht so, dass es jemals jemand erfahren müsste, dachte er kalt. Niemand, abgesehen vielleicht von Lois … und Lois würde meine Entscheidung akzeptieren. Carolyn hätte es vielleicht nicht getan, aber sie sind grundverschiedene Frauen.
    Ja, doch hatte er das Recht dazu?
    Atropos las ebenfalls in seiner Aura - es war unheimlich, wie viel diese Kreatur sah.
    [Selbstverständlich, Ralph - darum geht es bei diesen Fragen

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