Schlaflos - Insomnia
niemanden daran, 911 anzurufen,
indem man den Unterbrechungsknopf drückte, wenn man von einem Wildfremden zusammengeschlagen worden war -, aber er musste es fragen.
»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, die Antwort ein Geheimnis, das sie ins feine, seidige Haar ihres Babys hauchte. »Ja, es war Ed. Aber du darfst nicht die Polizei anrufen.« Jetzt sah sie zu ihm auf, in ihrem guten Auge stand Angst und Qual. »Bitte ruf nicht die Polizei, Ralph. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass Natalies Dad im Gefängnis sitzt, wegen … wegen …«
Helen fing an zu weinen. Natalie sah ihre Mutter einen Moment mit einem Ausdruck komischer Überraschung an, dann stimmte sie ein.
7
»Ralph?«, fragte McGovern zögernd. »Soll ich ihr eine Tylenol oder so was holen?«
»Besser nicht«, sagte er. »Wir wissen nicht, was ihr fehlt, wie schlimm die Verletzungen sind.« Sein Blick wanderte zum Schaufenster, er wollte nicht sehen, was da draußen los war, hoffte, es nicht zu sehen, und sah es trotzdem: neugierige Gesichter in einer Reihe bis zu der Stelle, wo der Kühlschrank mit dem Bier den Blick ins Innere verdeckte. Manche hielten die Hände seitlich ans Gesicht, um im blendenden Licht besser sehen zu können.
»Was sollen wir tun, Männer?«, fragte Sue. Sie betrachtete die Gaffer und zupfte nervös am Saum der Red-Apple-Schürze,
die Angestellte tragen mussten. »Wenn die Firmenleitung herausfindet, dass ich während der Geschäftszeit die Tür abgeschlossen habe, werd ich wahrscheinlich gefeuert werden.«
Helen zupfte an seiner Hand. »Bitte, Ralph«, wiederholte sie, aber mit ihren geschwollenen Lippen hörte es sich wie Biii, Raff an. »Ruf niemand an.«
Ralph sah sie unschlüssig an. Er hatte im Lauf seines Lebens viele Frauen mit vielen Blutergüssen gesehen, und einige (aber um ehrlich zu sein, nicht viele), die viel schlimmer zusammengeschlagen worden waren als Helen. Aber es hatte nicht immer so schlimm ausgesehen. Sein Denken und seine Moralvorstellungen waren in einer Zeit geprägt worden, als die Leute glaubten, was hinter verschlossenen Türen zwischen Mann und Frau in der Ehe vor sich ging, sei ausschließlich deren Sache, das galt auch für den Mann, der mit den Fäusten zuschlug, und die Frau, die mit ihrer spitzen Zunge verletzte. Man konnte die Leute nicht zwingen, sich zu benehmen, und wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischte - selbst mit besten Absichten -, wurden nicht selten Freunde zu Feinden.
Aber dann dachte er daran, wie sie Natalie getragen hatte, als sie über den Parkplatz gestolpert war: achtlos auf der Hüfte wie ein Schulbuch. Wenn sie das Baby auf dem Parkplatz fallen gelassen hätte, oder als sie die Harris Avenue überquerte, hätte sie es wahrscheinlich nicht gemerkt; Ralph vermutete, dass nur ein Instinkt Helen veranlasst hatte, das Baby überhaupt mitzunehmen. Sie hatte Nat nicht in der Obhut des Mannes zurücklassen wollen, der sie so schlimm verprügelt hatte, dass sie nur noch aus
einem Auge sehen und nuschelnde, verschliffene Silben von sich geben konnte.
Er dachte aber auch noch an etwas anderes, etwas, was mit den Tagen nach Carolyns Tod Anfang des Jahres zu tun hatte. Das Ausmaß seiner Trauer hatte ihn überrascht - immerhin hatte er mit ihrem Tod gerechnet und geglaubt, den größten Teil seines Kummers noch zu Carolyns Lebzeiten überwunden zu haben - und diese Trauer hatte ihn linkisch und hilflos gemacht, als es um die letzten zu treffenden Vorkehrungen gegangen war. Es war ihm gelungen, das Bestattungsinstitut Brookings-Smith anzurufen, aber Helen hatte die Todesanzeige in die Derry News gesetzt und ihm geholfen, sie abzufassen, Helen war mit ihm gegangen, einen Sarg auszuwählen (McGovern, der den Tod und alles, was damit zusammenhing, hasste, hatte sich rargemacht); und Helen hatte ihm geholfen, ein Blumenbukett auszusuchen - auf dem Meiner geliebten Frau stand. Und selbstverständlich hatte auch Helen den Leichenschmaus hinterher organisiert, Sandwiches bei Frank’s Lieferservice bestellt und alkoholfreie Getränke und Bier aus dem Red Apple geholt.
Helen hatte ihm geholfen, als er sich selbst nicht helfen konnte. War er nicht verpflichtet, ihr diese Freundlichkeit zu vergelten, selbst wenn Helen es im Augenblick nicht als Hilfe ansah?
»Bill?«, fragte er. »Was denkst du?«
McGovern sah von Ralph zu Helen, die mit gesenktem, zerschlagenem Gesicht auf dem Stuhl saß, und dann wieder zu Ralph. Er holte ein Taschentuch heraus
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