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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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selbstverständlich recht, aber das machte Ralph nur noch wütender. Er vermutete, dass seine Schlaflosigkeit auch hier die Hand im Spiel hatte, seine Wut entfachte und seine Vernunft beeinträchtigte, aber das spielte keine Rolle. In gewisser Weise kam die Wut einer Erleichterung gleich. Sie war immer noch besser, als durch eine Welt zu gehen, in der alles dunkle Grautöne angenommen hatte.

    »Wenn er mich schlimm genug zusammenschlägt, geben sie mir Demerol, und ich kann endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen«, sagte er. »Und jetzt lass mich in Ruhe, Bill.«
    Er überquerte den Parkplatz des Red Apple mit raschen Schritten. Ein Polizeiauto näherte sich mit blauem Blinklicht. Fragen - Was ist passiert? Geht es ihr gut? - wurden ihm entgegengeschleudert, aber Ralph antwortete nicht darauf. Er wartete auf dem Bürgersteig, bis das Polizeiauto auf den Parkplatz gefahren war, dann überquerte er die Harris Avenue mit ebenso raschen Schritten, während McGovern ihm in einiger Entfernung ängstlich folgte.

Kapitel 3

1
    Ed und Helen Deepneau lebten in einem kleinen Cape-Cod-Haus - schokoladenbraun, sahneweiße Verzierungen, ein Haus, wie es ältere Frauen häufig »Darling« nennen - vier Häuser von dem entfernt, das sich Ralph und Bill McGovern teilten. Carolyn hatte immer gesagt, die Deepneaus gehörten »der Kirche der Yuppies der letzten Tage« an, aber die Tatsache, dass sie sie wirklich gern hatte, hatte der Bemerkung vieles von ihrer Schärfe genommen. Sie waren Laissez-faire -Vegetarier, die Fisch und Milchprodukte okay fanden, sie hatten bei der letzten Wahl für Clinton gearbeitet, und das Auto, das in der Einfahrt stand - kein Datsun, sondern einer der neuen Mini-Vans -, trug Stoßstangenaufkleber wie SPALTET HOLZ, KEINE ATOME oder PELZ AN TIEREN, NICHT AN MENSCHEN.
    Außerdem hatten die Deepneaus offenbar jede Platte behalten, die sie in den Sechzigerjahren gekauft hatten - das war für Carolyn eine ihrer liebenswertesten Eigenheiten gewesen -, und als sich Ralph nun mit zu Fäusten geballten Händen dem Cape Cod näherte, hörte er Grace Slick eine der alten San-Francisco-Hymnen singen:
    »One pill makes you larger,
and one pill makes you small,
And the ones that Mother gives you
Don’t do anything at all,
Go ask Alice, when she’s ten feet tall.«
    Die Musik kam aus einem Ghettoblaster auf der briefmarkengroßen Veranda des Cape Cod. Auf dem Rasen drehte sich ein Sprinkler, der ein Hischa-hischa-hischa von sich gab, während er Regenbogen in die Luft warf und einen schimmernden feuchten Fleck auf dem Gehweg hinterließ. Ed Deepneau saß mit bloßem Oberkörper in einem Liegestuhl links von dem betonierten Weg, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah mit dem nachdenklichen Ausdruck eines Mannes zum Himmel, der zu entscheiden versucht, ob eine vorüberziehende Wolke mehr wie ein Pferd oder wie ein Einhorn aussieht. Ein Fuß wippte im Takt der Musik auf und ab. Das Buch, das aufgeschlagen und verkehrt herum auf seinem Schoß lag, passte perfekt zu der Musik: Sissy, Schicksalsjahre einer Tramperin von Tom Robbins.
    Eine fast perfekte Sommervignette; eine Szene kleinstädtischen Friedens, die Norman Rockwell gemalt und mit dem Titel »Freier Nachmittag« versehen haben könnte. Man musste nur über das Blut auf Eds Knöcheln und den Tropfen auf dem linken Glas seiner John-Lennon-Brille hinwegsehen.
    »Ralph, um Gottes willen, lass dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein!«, zischte McGovern, als Ralph den Bürgersteig verließ und über den Rasen ging. Er schritt durch die feine, kalte Gischt des Rasensprengers und bemerkte sie fast nicht.

    Ed drehte sich um, sah ihn und ließ ein sonniges Grinsen sehen. »He, Ralph!«, sagte er. »Schön, dich zu sehen, Mann!«
    Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er den Arm ausstreckte, Eds Stuhl umschubste, sodass dieser auf den Rasen fiel. Er sah, wie Ed hinter der Brille die Augen erschrocken und überrascht aufriss. Die Vision war so real, dass er sogar sah, wie sich die Sonne auf dem Ziffernblatt von Eds Uhr spiegelte, als er versuchte, sich aufzurichten.
    »Hol dir ein Bier und schnapp dir einen Stuhl«, sagte Ed. »Wenn dir nach einer Partie Schach zumute ist …«
    »Bier? Eine Partie Schach? Herrgott, Ed, was stimmt denn nicht mit dir?«
    Ed antwortete nicht gleich, sondern sah Ralph nur mit einem Ausdruck an, der Furcht einflößend und nervtötend zugleich war. Es war eine Mischung aus Heiterkeit und Scham, der Ausdruck eines Mannes,

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