Schlaflos - Insomnia
leidet.«
So etwas hatte sich Ralph gedacht … aber auch Aids war ihm kurz durch den Kopf gegangen. Er fragte sich, ob das McGovern schockieren würde, und er verspürte leichte Erheiterung bei dem Gedanken. Dann sah er den Mann an und schämte sich seiner Erheiterung. Er wusste, wenn es um Niedergeschlagenheit ging, war McGovern zumindest ein halber Profi, aber er glaubte nicht, dass die Trauer um seinen alten Freund deshalb weniger aufrichtig war.
»Bob war seit 1948, als er kaum älter als fünfundzwanzig gewesen sein konnte, bis 1981 oder 82 Dekan der historischen Fakultät der Derry High. Er war ein großartiger Lehrer, einer dieser immens klugen Köpfe, die man manchmal im Hinterland findet, wo sie ihr Licht unter den Scheffel stellen. Normalerweise werden sie Dekan ihrer Fakultät und lassen sich darüber hinaus ein halbes Dutzend fachfremde Aufgaben aufhalsen, weil sie einfach nicht Nein sagen können. Bob konnte es sicherlich nicht.«
Die Mutter führte jetzt ihren kleinen Sohn an ihnen vorbei in Richtung des Imbissstandes, der saisonbedingt bald schließen würde. Das Gesicht des Kindes war außergewöhnlich
durchscheinend, eine Schönheit, die durch die rosafarbene Aura verstärkt wurde, die Ralph um den Kopf kreisen und in Form sanfter Wogen über das kleine, lebhafte Gesicht wabern sah.
»Können wir nach Hause gehen, Mommy? Ich will jetzt mit meinem Play-Doh spielen. Ich möchte die Knetfamilie machen.«
»Gehen wir vorher etwas essen, großer Junge - okay? Mommy hat Hunger.«
»Okay.«
Eine hakenförmige Narbe verlief über den Nasenrücken des Jungen, und dort wurde das rosa Leuchten der Aura tief scharlachrot.
Ist mit acht Monaten aus dem Kinderbettchen gefallen, dachte Ralph. Wollte nach den Schmetterlingen des Mobiles greifen, das seine Mutter an die Decke gehängt hatte. Sie ist zu Tode erschrocken, als sie hineingelaufen ist und das viele Blut gesehen hat; sie dachte, der arme Junge würde sterben. Patrick, das ist sein Name. Sie nennt ihn Pat. Er wurde nach seinem Großvater benannt und …
Er kniff einen Moment fest die Augen zu. Ihm war ein wenig flau, unmittelbar unter dem Adamsapfel, und plötzlich war er überzeugt, dass er sich übergeben müsste.
»Ralph?«, fragte McGovern. »Alles in Ordnung?«
Er schlug die Augen auf. Keine Aura, weder rosa noch sonst wie; nur eine Mutter und deren Sohn, die zum Imbissstand gingen, um etwas Kaltes zu trinken, und er konnte unmöglich wissen, auf gar keinen Fall, dass sie Pat nicht nach Hause bringen wollte, weil Pats Vater nach fast sechs trockenen Monaten wieder trank, und wenn er trank, wurde er bösartig …
Hör auf, um Gottes willen, hör auf.
»Mir geht es gut«, sagte er zu McGovern. »Hab etwas Staub ins Auge bekommen, das ist alles. Nur weiter. Erzähl mir von deinem Freund.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er war ein Genie, aber im Lauf der Jahre bin ich zur Überzeugung gelangt, dass Genialität eine völlig überschätzte Eigenschaft ist. Ich glaube, dieses Land ist voll von Genies, von Typen und Mädels, die so klug sind, dass das durchschnittliche MENSA-Mitglied mit Ausweis dagegen wie Ficko der Clown aussieht. Und ich glaube, die meisten davon sind Lehrer, die in der Anonymität von Kleinstädten leben, weil sie es so haben wollen. Bob Polhurst wollte es auf jeden Fall so.
Er hat die Leute in einer Weise durchschaut, die mir Angst machte … jedenfalls anfangs. Nach einer Weile stellte man fest, dass man keine Angst haben musste, weil Bob gütig war, auch wenn er zunächst ein Gefühl von Furcht in einem erweckte. Manchmal fragte man sich, ob er einen mit gewöhnlichen Augen ansah, oder mit einer Art Röntgenapparat.«
Am Imbissstand bückte sich die Frau mit einem kleinen Pappbecher Limonade. Der Junge griff grinsend mit beiden Händen danach und nahm ihn. Er trank durstig. Dabei pulsierte das rosa Leuchten ganz kurz wieder um ihn herum, und Ralph wusste, dass er recht gehabt hatte: Der Junge hieß Patrick, und seine Mutter wollte nicht mit ihm nach Hause gehen. Das konnte er unmöglich wissen, aber er wusste es trotzdem.
»Wenn man damals«, sagte McGovern, »mitten aus dem tiefsten Maine kam und nicht hundertprozentig heterosexuell war, versuchte man wie der Teufel, dafür zu
gelten . Eine andere Möglichkeit gab es nicht, es sei denn, man wäre nach Greenwich Village gezogen, hätte ein Barett getragen und die Samstagabende in den Jazzclubs verbracht, wo sie applaudierten, indem sie mit den Fingern
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