Schlaflos
Kräutersträußen empor, tanzte
über ihr, wie Funken eines Lagerfeuers. Dann verdichteten sich die
Leuchterscheinungen zu hellen, flatternden Schlieren. Madeleine blieb ruhig
liegen und lauschte Irinas Beschwörungen. Es war nicht so schlimm, wie
befürchtet, denn es erinnerte nicht wirklich an Feuer. Eher an irgendeinen
Spezialeffekt aus Hollywoods Trickkiste. Sie fühlte ihre Sinne schwinden.
Eine graue Ebene erstreckte sich von Horizont zu Horizont.
Darüber spannte sich ein diffuser Himmel, in beinahe derselben Farbe, die keine
war. Dieser Ort kam ihr eigenartig bekannt vor, als wäre sie schon oft hier
gewesen. In ihren Träumen vielleicht?
Um sie herum tauchten Häuser, Straßen und Plätze auf, alle
menschenleer. Sie war nicht darauf zu gegangen und sie wuchsen auch nicht aus
dem Boden. Die Gebäude waren einfach da. Sie wusste, dass diese Straßenzüge ihr
Heimatstädtchen darstellten, wie man dergleichen im Traum eben wusste, obwohl
die Gebäude aus Fachwerk und Backstein ebenso viel Ähnlichkeiten wie
Unterschiede mit ihren Erinnerungen aufwiesen. Es war die Altstadt, in der sie
aufgewachsen war, und doch war sie es nicht.
Genauso unvermittelt tauchte ihr Elternhaus auf, und es
erschien ihr ebenso vertraut und fremd zugleich. Die Haustür stand offen und
der Wind ließ blütenweiße Gardinen aus den Fenstern flattern.
Sie sah, dass die Fenster nicht offen standen. Sie waren
eingeschlagen. Reste der Glasscheiben rissen die wehenden Vorhänge in Fetzen.
Sie waren auch nicht weiß, sondern blutbefleckt.
Panische Angst überkam Madeleine. Sie rannte, so schnell ihre
Füße sie trugen, rief nach ihren Eltern, schrie die Namen ihrer beiden
Schwestern. Sie brauchte ewig, um das Haus zu erreichen, das doch scheinbar nur
wenige Meter vor ihr stand. Endlich schaffte sie es. Kurz bevor ihre
schmerzenden Beine unter ihr nachgaben, stolperte sie über die Schwelle.
Verzweifelt irrte sie durch verlassene, verwüstete Zimmer.
Bastien hatte sie bewusstlos aus diesem Haus fortgebracht, und sie war nie
zurückgekehrt. Sie wusste nicht, wie es nach dem Überfall ausgesehen hatte, war
dankbar gewesen, dass er sich um alles kümmerte. Die Zerstörung, die sie jetzt
vor sich sah, erschien ihr grotesk übertrieben. Horden zerstörungswütiger
Berserker mussten hier gewütet haben!
Im Arbeitszimmer stieß sie auf den blutüberströmten Leichnam
ihres Vaters.
Madeleine würgte, klammerte sich am Türrahmen fest, bis sie
wieder atmen konnte. Man hatte ihm die Kehle durchschnitten, beinahe den Kopf
abgetrennt. Auch aus Wunden in seiner Brust strömte Blut. Doch das Bild
erschien, bei allem Schrecken, so unwirklich wie das ganze Haus. Noch immer
schaudernd erinnerte sie sich, dass ein menschlicher Körper sieben Liter Blut
enthielt. Was da den Holzfußboden bedeckte, musste die Füllung einer Badewanne
sein! Außerdem müsste der Geruch von so viel Blut sie schier um den Verstand
bringen. Dabei roch sie absolut nichts!
Die Erkenntnis, dass dieses Erlebnis nicht echt war, sondern
so etwas wie ein durch Magie erzeugter Traum, gab ihr die Kraft, näher an den
Leichnam heranzutreten. Sie stand neben ihm, als ihr Vater die Augen aufschlug,
erschreckend plötzlich.
Die Augen ihres Vaters waren dunkelbraun gewesen, wie ihre
eigenen. Das leuchtende Blau, das sie jetzt ansah, wirkte wie eine Karikatur
auf Armand.
»Madeleine!« Die Stimme Marcel Duprets hallte von den Wänden
wieder. Unmöglich konnten die Worte aus dieser zerfetzten Kehle stammen.
11
Sie spürte die Kälte des Altarsteins unter ihrem Rücken,
öffnete die Augen und blickte in Irinas ernstes Gesicht. Hinter der Hexe
spannte sich der Sternenhimmel.
»Madeleine?« Irina drehte sich um. »Sie ist wieder da.« In
ihrer Stimme klang Erleichterung mit. »Ich dachte nicht, dass es so lange
dauert. Geht es dir gut?«
Madeleine ergriff die Hände, die sich ihr entgegenstreckten,
und setzte sich auf. Die magischen Flammen waren erloschen. Dennoch erschien es
ihr ungewöhnlich hell. Täuschte ihr Zeitgefühl sie? Stand die Dämmerung kurz
bevor?
Sie erinnerte sich an alles! An die Vergangenheit, als wäre
sie niemals vergessen gewesen und an das Gespräch mit ihrem toten Vater. Ihre
Erleichterung war unbeschreiblich. Sie versuchte sogar ein Lächeln. Es geriet
zur Grimasse.
Armands Augen blickten finster, sein Gesicht war angespannt.
»Er hat mir verziehen«, sprudelte sie hervor. »Du hattest
recht. Mit Bastien. Mit allem. Aber mein Vater verachtet mich
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