Schlaflos
unter den Dunstglocken verschiedener Städte hatte sie beinahe
vergessen, wie spektakulär der Sternenhimmel sein konnte.
Irina kam auf sie zu. »Wir sind da!«
»Und wo genau ist das?«, fragte Madeleine ratlos.
Mithilfe einer Taschenlampe stöberte die Hexe im Dickicht
herum, buddelte mit bloßen Händen Wurzeln aus und pflückte irgendwelche
Kräuter. Dazu murmelte sie unverständliche Worte. Madeleine beobachtete Irina
mit ebenso viel Faszination wie Belustigung. Zumindest erklärte das den Zustand
ihrer Fingernägel.
Armand hantierte inzwischen im Kofferraum des Maibach herum.
Sie sah, wie er einen kleinen Koffer heraushob und am Rand des Gebüschs unter
einen Strauch schob.
»Was ist das?«
»Der Werkzeugkasten. Komm!« Armand ergriff Madeleines Hand.
Er lächelte ihr aufmunternd zu, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht.
Vielleicht kannte sie ihn auch noch nicht lange genug, um seine Stimmung zu
beurteilen? Sie wollte fragen, was ihn bedrückte. Bevor sie die rechten Worte
fand, hatten sie den dichten Hain aus Buchen und Eichen umrundet.
Vor ihnen tat sich eine Lichtung auf. Aus dem grasbewachsenen
Boden der kreisrunden Fläche erhoben sich Monolithen aus glatt geschliffenem
Granit. So eben waren ihre Oberflächen, so exakt ihr Gleichmaß, dass Madeleine
überzeugt war, ein Werk der Neuzeit vor sich zu haben. Vielleicht der moderne,
viel zu perfekte Nachbau einer vorgeschichtlichen Kultstätte?
Inmitten des Rundes aus aufragenden Steinen lag ein Quader
mit messerscharfen Kanten. Unter einem Strom unverständlicher Beschwörungen
ordnete Irina die gesammelten Wurzeln und Kräuter auf dem Steinquader an wie
einen Rahmen. Armand führte Madeleine zu dem Felsblock. Sie betrachtete die
glatte Oberfläche, umgeben von Lavendel, Wildrosen und anderen, ihr unbekannten
Gewächsen.
»Dies ist einer der letzten intakten Steinkreise«, erklärte
Irina. Ihre Stimme klang feierlich. »Die Magie der Alten ist hier so lebendig
wie vor Jahrtausenden. Im Gegensatz zu den halb zerfallenen Kreisen und
Steinen, die man hier überall findet. Sie verwittern, weil die Magie in ihnen
erloschen ist. Nur deshalb können nichtmagische Menschen sie finden. Leg dich
auf den Altar. Dann können wir mit dem Ritual beginnen.«
Armand ergriff Madeleines Arm und half ihr, auf den Quader zu
steigen.
»Ich komme mir vor wie ein Opfertier«, flüsterte sie dem
gefallenen Engel zu.
Irina lachte leise. »Lamm im Kräutermantel?« Sie nickte
verständnisvoll. »Hab keine Angst. Was du in der grauen Welt zu sehen bekommst,
mag manchmal erschreckend sein. Aber nichts davon kann dich verletzen. Denk
daran, ich bin eine weiße Hexe. Jeder Schaden, den ich dir zufügte, fiele
sieben Mal auf mich zurück.«
Die Vorstellung beruhigte Madeleine. Sie streckte sich
seufzend auf dem Stein aus.
»Das Schlimmste, was geschehen kann«, fuhr die Hexe fort,
»wäre, dass es nicht funktioniert.«
Madeleine sah das Aufblitzen in Armands Augen. »Warum habe
ich den Eindruck, dass der Gedanke dich nicht sonderlich beunruhigt«, fragte
sie. Nach all der Überzeugungsarbeit sollte man meinen, ihm läge viel an einem
Gelingen.
»Es gibt keinen Grund, warum es nicht funktionieren sollte«,
behauptete er.
»Es wird aussehen, als stünden die Kräuter in Flammen«,
eröffnete ihr Irina, und zupfte das Grünzeug zurecht, das sie beim hinauf
klettern berührt hatte. »Aber es ist kein Feuer. Es ist ein magisches Licht. Es
wird nicht heiß und kann dich nicht verbrennen.«
Sie glaubte ihr, konnte sich aber der leisen Panik nicht
erwehren, als Irina zurücktrat und Armand ihre Hand losließ. Wie kalt dieser
Steinblock sich anfühlte!
Irina stimmte einen Singsang an, in dem Madeleine einzelne
lateinische Worte zu erkennen glaubte. Sie zwang sich, liegen zu bleiben.
Schließlich hatte sie gründlich nachgedacht, während der langen, schweigsamen
Autofahrten.
Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass sie sich den
Tatsachen stellen musste. Wenn das, was Armand über ihre Familie gesagt hatte,
stimmte, dann musste sie es erfahren. Sie würde ohnehin keine Ruhe mehr finden.
Besser ein Augenblick schrecklichster Erkenntnis, als Jahrzehnte oder gar
Jahrhunderte, in quälender Ungewissheit. Sie tat das hier nicht für Armand. Sie
tat es für sich selbst.
10
Die Düfte der Pflanzen stiegen ihr in die Nase und zu Kopf.
Eine betäubende Wirkung ging von ihnen aus. Zuerst war das Licht bläulich,
stieg wie Schwärme farbiger Glühwürmchen aus den
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