Schlafwandler
ihn
auch nur einen Moment länger zu tragen, und seine Beine
verschwanden einfach unter seinem Körper.
Als er zu sich kam,
fühlte er eine kühle Hand auf seiner Stirn, die ihn sanft
streichelte.
Es kostete ihn
ungeheure Mühe, die Augen zu öffnen.
»Ava
…«
»Leise. Du bist
in einem Krankenhaus, Willi. Du hast eine doppelseitige
Lungenentzündung.«
Ein kurzer Blick
bestätigte ihre Worte. Wie absurd! Er war noch nie in seinem
Leben auch nur einen Tag krank gewesen. Aber mit dem Bewusstsein
kehrte auch die Furcht zurück.
»Wie lange bin
ich schon hier?«
»Schhhh.«
»Wie
lange?«
»Fünf Tage,
Willi.«
Allmächtiger
Gott! »Welches Datum haben wir?«
»Komm schon, du
brauchst Ruhe.«
»Das Datum, Ava.
Sag mir, welchen Tag wir haben!«
»Es ist der 18.
Januar. Aber wirklich, Willi …«
Er seufzte und
versuchte, seinen Oberköper aufzurichten. Thorrablot war am
24.
»Was hast du
vor?«
»Ich muss
…«
Der ganze Raum
verwandelte sich plötzlich in Knochen … und in
Gläser mit schwimmenden Hoden und Hirnen darin.
»Du musst genau
da bleiben, wo du bist.« Avas dunkle Augen blitzten.
»Du hast hohes Fieber.« Sie drückte seine Hand,
und ihre braunen Augen wurden weich vor
Zärtlichkeit.
Sein Kopf sank
zurück, aber sein Blut kochte.
»Hör mir
zu.« Er hörte sich sprechen, wusste aber nicht, wer da
redete oder was die Person sagte. »Ich will nicht, dass die
Jungs nach Deutschland zurückkehren. Verstehst du das? Weder
nächste Woche noch nächsten Monat. Nie mehr, Ava. Keiner
von euch. Sag deinem Vater, es wird Zeit, sein Geld aus der Firma
zu ziehen. Melde die Kinder hier in einer Schule an. Such eine
Wohnung. Tu, was nötig ist, nur …«
»Still.«
Sie legte ihm die Finger auf die Lippen. »Wir besprechen das
später. Wenn du wieder gesund bist.«
Sie beugte sich vor
und küsste ihn auf die Stirn, was ihm einen schwachen Seufzer
entlockte.
Aber es gab kein
Später. Kurz vor dem Morgengrauen schlich er sich aus dem
Krankenhaus und schleppte sich zum Gare du Nord, wo er in den
ersten Zug nach Berlin stieg.
SIEBENUNDZWANZIG
Ein tückischer
Wind fegte über die Havel. Der Januarvollmond tauchte Spandau
in ein gespenstisches Licht. Als der Schatten der Jacht Das Dritte
Auge auf
den Schwarzen Hirsch fiel, umklammerte
Kraus die eiserne Reling der Brücke und blickte auf die Mole
hinab, wo der Große Gustave seine Gäste
begrüßte. Sein Cape flatterte heftig im Wind. Es war
Thorrablot, endlich! Die Luft schien von Dämonen erfüllt
zu sein.
Menschen strömten
lautstark plaudernd die Laufplanke hinauf. Kraus unterdrückte
das tiefe, krampfhafte Husten, das seinen Körper immer noch
erschütterte, und schaute aus dem Schatten heraus zu. In der
Woche, seit er aus dem Krankenhaus geflohen war, hatte er sich mit
purer Willenskraft wieder aufgepäppelt. Jedes Mal, wenn er an
Sachsenhausen dachte, war das Fieber gesunken. Und jetzt, wo der
Moment der Wahrheit gekommen war, konnte er nur noch beobachten.
Wie die Meistersinger aus Wagners Oper wusste er, dass alles
– das ganze zukünftige Glück – vom Ausgang
dieser Auseinandersetzung abhing, die er eingefädelt
hatte.
Wie sorgfältig er
alles geplant hatte, bis ins letzte Detail! Wie oft war er seinen
Plan durchgegangen, hatte alles so vorbereitet, dass nichts
schiefgehen konnte. Gleichzeitig war ihm klar, dass immer etwas
passieren konnte. Wie bei Paula. Ihm schnürte sich die Kehle
zusammen, als er sich vorstellte, wie sie mit diesem Motorboot
verschwunden war. Er konnte nur versuchen, so wenig wie
möglich dem Zufall zu überlassen.
In dem silbrigen
Mondlicht wirkte der Schwarze Hirsch mit seinen Balken und
spitzen Giebeln wie ein Phantasiegebilde aus dem Märchen. Im
Inneren hockten sechs sehr reale Monster, die ein heidnisches Fest
feierten. Es hatte Kraus königliche Kopfschmerzen bereitet,
einen Plan zu ersinnen, wie er sie fangen konnte. Gleichzeitige
Überfälle auf Spandau und Sachsenhausen kamen nicht in
Frage, dafür hatte er nicht genug Ressourcen. Ein
Überfall nach dem anderen war zu riskant. Die Chance, dass
einer von ihnen entkam, war zu groß. Ein Arzt oder eine Wache
würde genügen. Ein kurzer Anruf, und alles wäre
gescheitert. Also hatte er zu der berühmten jüdischen
Verschlagenheit greifen müssen, über die diese Nazis sich
dauernd aufregten.
Die Idee war ihm
gekommen, als er im Fieberwahn im Krankenhaus gelegen hatte. Er
hatte gemeint, wieder diese Gesänge zu hören, dieses Lied
von dem Morgen im Wald mit
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