Schlafwandler
Stil
gekauft, sondern auch dazu passende Baskenmützen, in denen sie
aussahen wie kleine Franzosen. Sie zerrten ihn zur Seilbahn zum
Montmartre hinauf, posierten für Fotos auf der Terrasse von
Sacré-Cœur, brachten ihn dazu, dem Grabmal Napoleons
seinen Respekt zu erweisen. Aber die ganze Zeit über
quälte ihn die Erschöpfung, die er seit seinem
Erkundungsgang auf der Anstaltsinsel spürte. Jetzt schlug sie
richtig zu. Seine Gliedmaßen und Muskeln fühlten sich
an, als hätte sie jemand mit Zement ausgegossen. »Komm
doch, Vati!« Die Jungs wurden ungeduldig. »Du gehst ja
langsamer als Oma.« Sein Husten wurde stündlich
schlimmer.
Für seinen
letzten Tag in Paris hatte er den Jungs versprochen, mit ihnen zu
gehen, wohin sie wollten. Die Kinder hatten kein Problem, sich zu
entscheiden. Sie hatten etwas über einen riesigen
Tunnelkomplex gelesen, der unter den Straßen lag …
Also besuchten sie die Katakomben. Ava, die aus dem Urlaub
zurückgekommen war, gesellte sich nur zu gern zu ihnen, obwohl
sie keine Zweifel daran ließ, was sie von diesem Ausflugsziel
hielt. »Mein Gott! Ausgerechnet! Dabei gibt es so viele
schöne Plätze in dieser Stadt!« Der Eingang auf der
Place Denfert-Rochereau war eine schlichte Tür, an der man
leicht hätte vorbeigehen können. Aber die Jungs kannten
den Eingang genau. Nachdem sie den Eintritt bezahlt hatten,
betraten sie eine lange, steinerne Wendeltreppe, die in einen
Abgrund führte. »Ist das nicht phantastisch?«,
schrie Erich und rannte voraus. Am Fuß der Treppe knirschte
feuchter Schotter unter ihren Schuhsohlen, als sie durch einen
dunklen Tunnel gingen. Stefans Gesicht strahlte, als er auf ein
Schild deutete, das verkündete, sie befänden sich
fünfundzwanzig Meter unter der Straße. Als er
Kraus’ und Avas Hand nahm und fröhlich zwischen ihnen
herumhüpfte, zog sich Kraus plötzlich die Brust zusammen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, das sich kurz darauf in
einem tiefen, abgehackten Husten entlud.
»Um Himmels
willen!« Avas Miene verfinsterte sich.
»Diese
Luft.« Er hatte das Gefühl zu ersticken. »Sie ist
so verdammt trocken.«
Obwohl sie Wasser
tropfen hörten und Stalaktiten sahen, die sich an der Decke
gebildet hatten, schien ein körniger Dunst die Luft zu
verdichten, während sie dem Tunnel folgten. Die ganze Zeit
über hatte Kraus vermutet, die Katakomben hätten etwas
mit dem Kanalisationssystem zu tun. Doch als sie jetzt eine
dämmrige Kammer betraten, berichtigte eine kleine Ausstellung
seinen Irrtum. Diese unterirdischen Gänge, die sich über
dreihundert Kilometer erstreckten, stammten noch aus der
Römerzeit und waren ursprünglich als Minenstollen
für den Kalksteinabbau angelegt worden, der damals weit
außerhalb der Stadt betrieben worden war. Als die Stadt sich
dann ausdehnte und Grundbesitz rar wurde, requirierte die Regierung
einfach mehrere jahrhundertealte Friedhöfe und ließ die
sterblichen Überreste der Menschen hierherschaffen. So war das
alte Minensystem, das jetzt direkt unterhalb von Paris lag, zu
einem gewaltigen Beinhaus geworden, in dem die Überreste von
fünf bis sechs Millionen ehemaliger Einwohner ruhten, die von
Arbeitern mit bewundernswerter Kunstfertigkeit umgebettet worden
waren.
Bitte gehen Sie
vorsichtig weiter.
Fünf bis sechs
Millionen?
Arrête!
C’est ici l’empire de la mort! , verkündete ein Schild
über der nächsten Tür.
»Halt. Das hier
ist das Reich der Toten.«
»Komm schon,
Papa! Du hast doch keine Angst, oder?«
Angst? Papa? Wie
konnte Papa Angst haben? Er öffnete die Tür.
Der Staub wurde so
dicht, dass er ihn auf der Haut fühlen konnte.
Sie folgten einem
weiteren langen, dunklen Gang, aus dem es kein Entrinnen zu geben
schien, und erreichten schließlich einen kapellenartigen
Raum, der, wie Kraus erkannte, aus Knochen bestand. Aus
menschlichen Knochen. Die Wände, die Decken, alles war aus
Knochen gemacht. Tausende und Abertausende davon, alle
sorgfältig angeordnet. Schienbeine und Oberschenkelknochen
ruhten übereinander; an sie grenzten ordentliche Reihen aus
Totenschädeln. Schlüsselbeine und Hüftknochen
bildeten kunstvolle Herzen und Kreuze. Ava verzog angewidert das
Gesicht, aber die Jungs hätten sich nicht gruseliger
vergnügen können. Kammer um Kammer, Gang um Gang setzten
diese Anordnungen Kraus zu, bis sich die Skelette vor seinen Augen
erhoben und miteinander tanzten. Sie tanzten um seinen Kopf. Dann
drehte sich alles um ihn. Sein eigenes Skelett weigerte sich,
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