Schlafwandler
Achtundfünfzig
elende Tage!«
»Bitte, Herr
General. All diese Kisten, die Fotos und Akten aus
Sachsenhausen?«
Der Exkanzler wandte
sich ihnen zu und nahm das Monokel aus dem Auge. »Es ist
alles so schnell gegangen.« Er sah aus, als wäre er
hundert Jahre alt. »Ich war innerhalb von einer Stunde
draußen. Können Sie sich vorstellen, dass sie mich
gezwungen haben, selbst zu packen? Ich hatte keine Ahnung, was ich
mit Ihren Kisten anfangen sollte, also habe ich Eckelmann
angerufen.«
»Eckelmann, den
Abgeordneten der Sozialisten?«
»Sozialist. Und
wenn schon? Ich kenne ihn seit dreißig Jahren. Elisabeth und
ich haben neulich abends sehr nett bei Aschinger mit ihm diniert.
Beim Cognac sagte er zu mir: ›Kurt, wenn ich jemals etwas
für dich tun kann …‹ Also habe ich ihn
angerufen. Natürlich habe ich ihm nicht gesagt, was in den
Kisten ist, nur, dass sie wichtiges Material enthalten, das
geschützt werden muss. Wir haben dafür gesorgt, dass es
mit einem Lastwagen in sein Büro gebracht
wurde.«
»In sein
Büro … im Reichstag?«
»Ja. Es gibt
dort Berge von Material, um das sich keiner kümmert. In den
Lagerräumen. Die Kisten sind dort so sicher wie in einer Bank,
das versichere ich Ihnen.« Von Schleicher blinzelte mehrmals,
klemmte dann langsam das Monokel ins Auge und starrte wieder in den
Kamin.
Kraus fühlte sich
elend. Sie fuhren sofort zum Reichstag, aber das gesamte
Gebäude war abgesperrt. Sie versuchten, Eckelmann in seinem
Büro zu erreichen, dann zu Hause, aber niemand antwortete. Sie
konnten nichts tun. Fritz murmelte ständig: »Warum zum
Teufel hat man mich von der Presseliste der Kanzlei
gestrichen?« Auf dem Weg zu seinem Büro sahen sie
Trauben von Menschen, die sich um die Zeitungskioske drängten.
Vereinzelt brandeten Jubelrufe auf. Fritz beugte sich aus dem
Wagenfenster. »Was ist denn los?«
»Wir sind
gerettet!«, schrie ein junges Mädchen. »Hitler ist
an der Macht!«
Fritz sank auf den
Beifahrersitz zurück. »Kein Wunder, dass man mich von
der Presseliste entfernt hat.« Er starrte geradeaus.
»Dann sind wir erledigt.« Er sah Kraus an. »Nicht
nur wir. Ganz Europa ist erledigt.«
Vielleicht ist es ja
ein Irrtum, dachte Kraus, wie damals, als er von Vickis Tod
erfahren hatte. Aber warum ließen die jüdischen
Geschäftsleute dann die Rollläden vor ihren
Geschäften herunter? Hitler hatte hundertmal angekündigt,
dass an dem Tag, an dem er das Ruder übernahm, Köpfe
rollen würden. Wer hätte geglaubt, dass diese Idioten ihm
dieses Ruder ganz legal in die Hand drücken würden, ohne
dass auch nur ein Tropfen Blut floss?
Die Leute rissen sich
um die Extrablätter.
»Vielleicht ist
es ja nicht so schlimm, wie es aussieht.« Fritz riss einem
Straßenverkäufer eine Zeitung förmlich aus der
Hand. Er schien zu beten, als er die Titelseite überflog.
»Hugenberg … Finanzminister. Von Papen …
Vizekanzler. Vielleicht können sie den Hund ja
tatsächlich an die Leine nehmen.«
»Du selbst hast
von Papen einen albernen Schafskopf genannt.«
Als sie die Leipziger
Straße erreichten, war ihnen selbst der schwarze Humor
abhandengekommen. Gruppen der SA marschierten über die
Bürgersteige. »Heute Deutschland
– morgen die ganze Welt!« , skandierten sie lautstark und
wurden handgreiflich gegen die Leute, die aus dem Kaufhaus Wertheim
kamen oder hineinwollten. Dann krachte es laut. Eine der
großen Fensterscheiben zerbarst. »Es ist nicht so
schlimm, wie es aussieht.« Kraus steuerte den Wagen um die
Glasscherben herum. »Es ist schlimmer.«
Das
Ullstein-Gebäude in der Kochstraße machte bereits den
Eindruck einer belagerten Festung. Die Angestellten suchten hastig
im Inneren Schutz. »Ich werde Eckelmann finden, so oder
so«, sagte Fritz, als er ausstieg. »Und sobald ich ihn
habe, gebe ich dir Bescheid.«
Kraus fuhr sofort nach
Dahlem. In dem hellen Winterlicht wirkte die von Efeu bewachsene
Villa der Gottmanns so heiter wie auf einem Gemälde.
»Willi!« Max umarmte ihn, als er hereinkam. »Das
ganze Land hat den Verstand verloren. Hitler spricht gleich im
Radio. Beeil dich! Wir wollen hören, ob er sich vielleicht
mäßigt, nachdem er jetzt im Amt ist, wie alle vorher
gesagt haben. Du weißt schon, ob er sich
staatsmännischer gibt,
versöhnlicher.«
Ava saß auf der
Couch, hatte einen bestickten Schal um die Schultern gelegt und war
merklich weniger erfreut, Kraus zu sehen. »Hallo«,
begrüßte sie ihn kühl und schaltete das Radio an.
»Dich haben
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