Schlafwandler
wir wirklich nicht erwartet.«
»Dein Timing ist
außergewöhnlich, Willi!«, platzte Max heraus, der
vor Nervosität vollkommen außer sich war. Die Adern an
seinen Schläfen schienen kurz vorm Platzen zu sein. »Du
hast mir gerade noch rechtzeitig nahegelegt, alles aufzulösen.
Es ist mir gelungen, alles zu liquidieren, das Haus, die Möbel
und das Geschäft. Und das zu einem recht annehmbaren Preis,
unterm Strich betrachtet. Gott allein weiß, was
jüdischer Besitz ab morgen noch wert ist.«
Ein Gong drang aus dem
Radio. »Der neue Reichskanzler spricht jetzt zur
Nation.« Einen Moment herrschte Stille, dann meldete sich
eine Stimme zu Wort. Eine gepresste, harte Stimme.
»Deutsche!
Fünfzehn Jahre lang hing eine korrupte Republik wie eine
Henkersschlinge um unsere Hälse. Millionen Deutsche
arbeitslos! Millionen Deutsche obdachlos. Aber jetzt, endlich, habe
ich die Zügel der Macht ergriffen!«
»Welche
Arroganz!«, stammelte Max.
»Die
internationalen Finanziers und die internationalen Bolschewisten
und das internationale Komplott jüdischen Ungeziefers werden
nicht mehr länger dem Deutschen Volk das Blut aussaugen. Der
Tag der Abrechnung steht bevor. Ich bin euer
Führer!«
Ava zog den Schal
fester um sich und wandte sich an ihren Vater. »Ich denke,
damit hat sich deine ›Sobald-er-im-Amt-ist‹-Theorie
erledigt.«
»Mein Gott, er
scheint noch hysterischer geworden zu sein.« Die Adern auf
Max’ Stirn pulsierten. »Ich würde diesen Kreaturen
zutrauen, dass sie die Grenzen dichtmachen und uns wie Fliegen in
einem Glas fangen. Ich sage euch, wir verlassen dieses Land. Und
zwar besser heute als morgen.«
Kraus erklärte
sich bereit, ihnen Billets für den Nachtzug nach Paris zu
besorgen.
Bevor er ging, hielt
Ava ihn auf und sah ihn fast flehentlich an. »Wir sehen uns
später?«
»Ja,
selbstverständlich.« Kraus drückte ihre Hand.
Plötzlich hätte er ihr gern so viel gesagt, aber
dafür war jetzt keine Zeit.
Am Bahnhof Zoo
erstreckte sich die Schlange der Wartenden vor den
Fahrkartenschaltern über den ganzen Block. Er spürte die
Furcht in der Luft, die Verzweiflung, die Ungläubigkeit, dass
es tatsächlich geschehen war. Die Nazis – an der Macht!
Die Spannung hatte sich noch verschärft, als er Max und Ava
auf dem Bahnsteig traf. Berge von Gepäck ließen all den
Menschen kaum genug Platz, die sich von all den Menschen
verabschieden wollten, die abreisten. In einer Menschentraube
wurden Kurt Weill und Lotte Lenya verabschiedet; Vicki Baum, Erich
Mendelsohn, genialer Architekt der Weimarer Republik, und die
große Marlene Dietrich saßen bereits im Zug. Kraus
wartete, bis auch Max und Ava einen Sitzplatz ergattert hatten,
bevor er ihnen sagte, dass er nicht mitkam.
»Verstehe.« Ava wurde
blass. »Noch mehr wichtige Dinge, richtig?« Kraus
senkte den Kopf. Wenn er es ihr nur verständlich machen
könnte. »Und wenn sie die Grenzen dichtmachen, Willi?
Was dann?«
»Ich bin ein
hochdekorierter Kriegsheld, vergiss das nicht.«
»Du bist kein
Kind mehr.« Ihre dunklen Augen blitzten. »Du bist
Vater, um Himmels willen. Deine Jungs brauchen
dich.«
»Und ich brauche
sie.« Kraus seufzte. »So wie ich dich brauche.«
Er umarmte Ava hastig und stürmte dann aus dem Zug. Er war zu
weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Schimpft mich doch einen
Idioten, dachte er, als er Minuten später in den BMW stieg.
»Aber ich werde ohne diese Beweise nicht abreisen. Sobald die
Welt erfährt, was in Sachsenhausen geschehen ist, werden sie
Hitler aus dem Amt verjagen.«
Als er sich von der
Hardenbergstraße dem Ku’damm näherte, reflektierte
ein merkwürdiger Schein auf den Fassaden der Gebäude. Der
Verkehr kam zum Erliegen, die Leute stiegen aus ihren Wagen. Kraus
stellte den Motor ab. Mit jedem Schritt in Richtung der Kreuzung
wuchs sein Unbehagen. Rauch reizte seine Nase. An der Ecke musste
er sich auf die Zehenspitzen stellen. Ihm wurde am ganzen
Körper eiskalt. So weit das Augen blickte, sah er nur
Braunhemden auf dem Boulevard. Ein endlos scheinender Strom aus
Braunhemden marschierte in einem riesigen Fackelzug in Richtung
Stadtzentrum. Wie eine Eroberungsarmee. Fahnen flatterten, Trommeln
dröhnten. Die gesamte Neonreklame des Ku’damms wirkte
gegen diesen reißenden Strom aus Feuer wie eine flackernde
Kerze.
Kraus schloss in
dieser Nacht kaum die Augen. Er konnte nur an eines denken: Wie
konnte er diese Kisten mit dem Beweismaterial aus dem Reichstag
herausbekommen? Fritz hatte ihm gesagt,
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