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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Dreckskerlen davonfahren. Aber die
Straßen durch den Grunewald waren schmal und kurvig, dazu war
es pechschwarz, und er kannte sich nicht so gut aus. Im
Rückspiegel sah er die Scheinwerfer der Verfolger. Sie waren
so weit hinter ihm, dass er immer noch eine Chance hatte, sie
abzuhängen, doch sie fielen nicht weiter zurück. Er bog
an der ersten Kreuzung scharf nach rechts ab, dann sofort wieder
scharf nach links. Die Scheinwerfer folgten ihm. Dann sah er eine
Lichtung, trat auf die Bremse und drehte sich schleudernd um
hundertachtzig Grad. Dann raste er zurück und erhaschte im
Vorbeirasen einen Blick auf wütende Nazigesichter. Er zuckte
zusammen, als sie wie wild auf ihn schossen. Es gelang ihnen, einen
seiner Scheinwerfer auszuschießen. Aber er gewann ein paar
hundert Meter Vorsprung. Dann erreichten auch sie die Lichtung,
wendeten und nahmen seine Verfolgung wieder auf. Er raste durch
eine tiefe Senke, um eine Kurve herum und wurde von den
Scheinwerfern eines entgegenkommenden Fahrzeugs geblendet. Wenn das
der andere Naziwagen ist, bin ich tot, dachte er, während er
so weit rechts wie möglich fuhr. Dann fegte der Wagen an ihm
vorbei, und er konnte wieder sehen. Das heißt, er sah
Dunkelheit, pechschwarze Dunkelheit. Von dem verbliebenen
Scheinwerfer geführt, gab er Gas und fuhr so schnell, wie er
sich traute.
    Das kann einfach nicht
sein, wiederholte eine innere Stimme unaufhörlich. Er wurde
nicht wirklich von Kriminellen durch Berlin gejagt, die Polizisten
geworden waren. Eine Maschinenpistolensalve schien ihn aus seinem
eigenen Körper herauszuheben, und er schwebte über dem
Wald. Er konnte seinen BMW sehen, wie er vor der schwarzen
Limousine floh. Er, der Kriminalinspektor, der die schlimmsten
Verbrecher der Gesellschaft aufgespürt und gejagt hatte, war
jetzt selbst zum Gejagten geworden. Wie absolut kindisch war es
gewesen, zu glauben, Gerechtigkeit wäre eine Pflicht im Leben
eines Mannes! Aus seiner Vogelperspektive sah er, wie er sich in
der Dämmerung verirrte. Er hasste den Wald. Je verzweifelter
er versuchte, sich daraus zu befreien, desto verwirrter und
aufgeregter wurde er, bis sich sein Blickfeld vor
Hoffnungslosigkeit verdunkelte und er das Gefühl hatte zu
ertrinken.
    Ein gleißendes
Licht holte ihn wieder zurück. Auf der rechten
Straßenseite deutete ein beleuchtetes Verkehrszeichen mit
einem langen Pfeil nach rechts, wie der Arm Gottes selbst. EINFAHRT
– AVUS-RENNSTRECKE. Er konnte wieder atmen, als er auf die
leere Schnellstraße einbog. Dann trat er das Gaspedal so weit
durch, wie er konnte, und der BMW heulte auf. Obwohl er sah, dass
die schwarze Limousine ihm folgte, konnte er jetzt nur noch
über sie lachen. Einhundert Kilometer, einhundertzehn,
einhundertzwanzig … da konnte keiner mithalten.

 
    DREISSIG
    Als Kraus wieder in
die Stadt kam, wusste er nicht, wohin er sich wenden sollte. Er war
in seiner Heimatstadt heimatlos. Flackerndes Neonlicht erleuchtete
leere Straßen. In der zweiten Nacht der Naziherrschaft war
Berlin unheimlich tot. Ziellos fuhr er stundenlang herum, bis ihm
schließlich die Visitenkarte in seiner Brieftasche einfiel.
Als er die Villa im Tiergarten erreicht hatte, war seine Kehle so
zugeschnürt, dass er kaum ein Wort herausbekam. »Du hast
gesagt, wenn ich jemals …«
    »Um Himmels
willen.« Sylvie zog ihn fast ins Haus. In ihren blauen Augen
blitzte Überraschung und Verstehen. Die Nachricht von
Fritz’ Verhaftung traf sie hart. »O Gott, nein. Du
glaubst doch nicht, dass sie …?«
    »Er hat sie
jahrelang Gangster genannt, Sylvie. Schweine, Tiere, bösartige
Affen.«
    »Der arme
Fritz.« Sie ließ sich auf die Couch fallen. »Mit
seinem großen Mundwerk.« Eine Weile starrte sie mit
leerem Blick geradeaus, bis sie schließend weinend in
Kraus’ Armen zusammenbrach. »Wenigstens bist du in
Sicherheit«, seufzte sie und drückte seinen Arm.
»Hier wird dich keiner suchen. Bleib, so lange du
willst.« Bleib für immer, schien ihre traurige Stimme
ihm zu sagen. »Ich mache einen Tee und lasse dir ein Bad ein.
Wie klingt das?« Er sah das Mitleid in ihren Augen, als
wollte sie sich für ihre arischen Volksgenossen entschuldigen,
die dort draußen herumtrampelten. Und einem Bad konnte er
nicht widerstehen.
    Er lag in dem
heißen Wasser, während jeder Muskel in seinem
Körper schmerzte, und zuckte zusammen, als Sylvie, ohne zu
klopfen, hereinkam. Ihr blondes Haar schwang offen um ihren Hals.
Wortlos kniete sie sich neben die Wanne und fing an, seine

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