Schlafwandler
ins Freie trat, stellte er
überrascht fest, dass es angefangen hatte zu schneien. Die
Bäume, die der Prachtstraße Unter den Linden ihren Namen
gegeben hatten, die beeindruckende Statue von Friedrich dem
Großen, all das war bereits von einer weißen
Schneeschicht überzogen. Zu spät bemerkte er die
Menschenmenge, die sich vor der Bibliothek versammelt hatte, um
einer Rede des neuen Propagandaministers zu lauschen. Reporter, ein
Kameramann der Wochenschau, Nazibonzen und eine ganze Abteilung
Braunhemden verwandelten sich in Schneemänner, als Joseph
Goebbels der »kulturellen Dekadenz« den Krieg
erklärte.
»Diese
großartige Staatsbibliothek«, schrie der kleine Mann,
»die vor über vierhundert Jahren von unseren
Vorvätern gegründet wurde, wird vom Keller bis zum
Dachboden gesäubert! All die Lügen, all dieser
pornografische Dreck, all die degenerierte Judenpropaganda werden
den Flammen übergeben werden!«
Den Flammen?, fragte
sich Kraus. Was hatten sie vor, wollten sie die Bibliothek
niederbrennen? Er erschauerte, als er sich an die Prophezeiung des
Großen Gustave erinnerte, der für diesen Februar einen
gewaltigen Brand vorhergesagt hatte, aus dessen Asche sich wie
Phönix ein neues Deutschland erheben würde. Konnte er das
gemeint haben? Kraus’ Überlegungen fanden ein abruptes
Ende, als er kaum drei Meter von sich entfernt große
Hasenzähne bemerkte und darüber ein Augenpaar, das ihn
feindselig musterte.
Sie hatten ihn
tatsächlich entlassen.
Die Verrückten
leiteten tatsächlich das Irrenhaus.
»Packt
ihn!« Mengele deutete mit dem Finger auf ihn. »Dieser
Jude hat meine Forschungsergebnisse gestohlen!«
Seine Arbeit!, dachte
Kraus, während er sich in die einzige Richtung in Bewegung
setzte, die ihm blieb, in den nach Westen führenden
Verkehrsstrom. Das ist alles, woran dieser Wahnsinnige denkt. Seine
Arbeit! Ein durchdringender Pfiff ertönte. Komisch! Genau
dasselbe hat Ava auch über mich gesagt. Er rannte um einen Bus
und mehrere Autos herum und schaffte es bis zum Mittelstreifen. Als
er es wagte, sich umzudrehen, sah er zu seinem Entsetzen, dass er
von ungefähr dreißig Braunhemden verfolgt wurde. Er
holte hastig Luft und rannte vor Friedrich dem Großen in den
nach Osten führenden Verkehr hinein. Die Straße war
bereits verschneit; er rutschte auf der glatten Fahrbahn aus und
fiel unsanft auf den Hintern. Als er erschreckt hochsah, raste ein
Lastwagen auf ihn zu. Der Fahrer hupte wie verrückt, bremste
und kam rutschend und schlitternd nur zwei Meter vor ihm zum
Stehen.
Der Fahrer rollte das
Fenster herunter. »Armleuchter!«
Von der anderen Seite
antwortete ihm ein ganzer Chor von Stimmen. »Aufhalten! Er
ist ein Dieb!«
Der Mann öffnete
die Tür. »Ein Dieb?« Er stürzte sich auf
Kraus. Aber als er aus dem Wagen sprang, verlor er das
Gleichgewicht, und Kraus rannte davon.
Vor dem Opernhaus
gellten ein Dutzend Pfeifen in einem höllischen Chor. Die
Leute starrten durch den Schneeschleier und versuchten
herauszufinden, wer der Übeltäter war. Eine alte Dame
machte Anstalten, seinen Arm zu packen. Ein Kind warf etwas nach
ihm. Aber Kraus erreichte dennoch, mehr rutschend als laufend, die
Palastbrücke. Die wundervolle Brücke sah aus wie auf
einem Witzfoto. Die Marmorschönheiten waren in Togen aus
Schnee gehüllt. Ein halbes Dutzend Uniformierter kehrte mit
riesigen Besen den Bürgersteig. Als sie bemerkten, dass er vor
Braunhemden floh, machten sie ihm Platz. Auf der anderen Seite der
Spree sah Kraus, wie sie hinter ihm wieder ihre Reihen geschlossen
hatten und taten, als merkten sie nicht, dass sie die Jagd der
Braunhemden behinderten. Gesegnet seid ihr, ihr
Müllmänner, dachte Kraus.
Von blanker Furcht
angetrieben, fegte er am Palast des Kaisers vorbei. Er erinnerte
sich, dass er als Kind zugesehen hatte, wie die Generäle in
ihren kniehohen Stiefeln und federgeschmückten Helmen hinein-
und herausstolziert waren. Jetzt waren die großen
schmiedeeisernen Tore verschlossen und rosteten vor sich hin.
Cousins des Kaisers wurden aus ihren eleganten Glashäusern
gezerrt. Die Welt hatte sich auf den Kopf gestellt, bereits zum
wiederholten Mal in seinem kurzen Leben.
Der Schneefall wurde
von Minute zu Minute stärker, so dass man kaum noch etwas
sehen konnte. Jede Bewegung erforderte seine ganze Konzentration,
als überquere er ein Minenfeld. Die Pfeifen kamen näher,
ebenso wie die Rufe: »Haltet ihn auf!« Jetzt fehlen nur
noch Hunde und Fackeln, dachte er, während er
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