Schlafwandler
Brust
mit einem Waschlappen einzuseifen. »Ich habe nie
wahrgenommen, was für ein kräftiger Mann du bist. Was
für breite Schultern du hast.«
»Du warst immer
zu sehr in Fritz verliebt.« Er lächelte und schob
traurig ihre Hand zur Seite.
»Und du«,
sie seufzte, »hast immer Vicki zu sehr geliebt.« Sie
wrang den Waschlappen aus und stand auf. »Und jetzt liebst du
ihre Schwester.« Sie sah, wie er erstarrte. »Das ist
keine Schande, Willi.« Sie strich ihr Haar zurück.
»Ava ist wie eine Mutter für die Jungs. Wenn ihr beide
aufrichtige Gefühle füreinander empfindet, dann
…« Sie öffnete die Tür. »Mazel
tov.«
Er legte sich auf die
Couch und schlief wie ein Toter, bis ein lautes Summen ihn weckte
und er fast aus der Haut fuhr.
»Entspann
dich.« Sylvie trat aus ihrem Schlafzimmer und zog einen
Morgenmantel über. »Sturmtruppen halten sich nicht mit
Klingeln auf.«
Es waren Rudolf
Kreisler, Fritz’ Chefredakteur, und seine pummelige Frau
Millie. Sie schleppten sich mit einem halben Dutzend Koffern ab.
Kraus hatte Millie neulich abends auf dem Presseball gesehen. Sie
war vollkommen betrunken gewesen und hatte schamlos mit nackten
Füßen gesteppt. Jetzt wirkte sie ernüchtert, ihr
plumpes Gesicht war eingefallen, und sie ließ den Kopf
hängen.
»Wir sind
stundenlang herumgefahren, um uns zu überzeugen, dass uns
niemand folgt.« Kreisler wischte sich den Schweiß von
der Stirn. »Sie haben gestern zwei Ullstein-Chefs verhaftet.
Die ganze Firma ist von Nazizellen durchsetzt. Sie übernehmen
die Macht. Die Brüder ziehen sich zurück. Und wir fliehen
am Nachmittag nach Prag, aber … sie kommen immer in der
Nacht, wissen Sie.«
»Verzeihen Sie
uns«, keuchte Millie.
»Geben Sie mir
Ihre Mäntel.« Sylvie streckte die Arme aus. »Ich
habe Ihnen gesagt, ich wäre für Sie da, und hier bin
ich.«
In dieser ersten Woche
des neuen »Dritten Reichs« durchliefen mehr Menschen
Sylvies Haus als den Bahnhof Zoo. Studenten von der
Universität. Lehrer vom Bauhaus. Ein Cellist der Philharmonie.
Ihr Friseur. Alle schienen auf der Flucht zu sein. Und alle trugen
mit ihren geflüsterten Nachrichten zu dem wachsenden Berg von
Horrorgeschichten bei. Grauenerregende Geschichten von
Kellerverliesen. Folterungen. Leichen, die ihren Familien in
versiegelten Särgen ausgehändigt wurden. Kraus fiel es
nicht schwer, jedes Wort davon zu glauben.
Wie ein Besessener war
er jetzt davon überzeugt, dass er allein die Nation retten
konnte. Dass der Inhalt dieser Kisten in den Lagerräumen des
Reichstags das einzige Elixier beinhalteten, das mächtig genug
war, die Deutschen aus ihrem dämonischen Zustand des
Schlafwandelns zu reißen. Wenn der Ullstein-Verlag die
Geschichte nicht mehr publizieren konnte, würde es jemand
anders tun. Irgendwo. Irgendwie. Dafür würde er sorgen.
Aber der Reichstag war verrammelt und verriegelt. Das letzte
Parlament war von Hitler an dem Tag aufgelöst worden, als er
die Macht übernahm. Die Nazis hatten zwar die Zügel der
Macht in die Hände gedrückt bekommen, aber sie hatten
noch keine legislative Mehrheit. Hitler hatte für den 5.
März Neuwahlen ausgeschrieben, überzeugt, dass er dadurch
jegliche Opposition ausradieren konnte.
Ein Volk! Eine
Partei! Ein Führer! Kraus musste unbedingt vor ihm in
das Gebäude gelangen. Obwohl er wusste, dass das Hineinkommen
das einfachere Vorhaben war. Mit all den schweren Kisten
herauszukommen war die eigentliche Herausforderung.
Einer von Sylvies
Übernachtungsgästen, ein energischer junger Arzt, der
nach Amerika wollte, ließ die Theorie vom Stapel, dass die
Nazis sehr genau wussten, dass sie keine freien Wahlen gewinnen
würden. Noch widersetzte sich ihnen eine Mehrheit der
Deutschen. Die Arbeiterparteien würden ihnen widerstehen. Und
alle Grundrechte der Verfassung, die Pressefreiheit, das
Versammlungsrecht, blieben legal. Nein, er war davon
überzeugt, dass die Nazis einen weit machiavellistischeren
Plan brauchten, um die totale Macht an sich zu reißen, und
zwar vor dem 5. März.
»Sagen wir, eine
Kugel wurde abgefeuert«, spekulierte er beim Abendessen.
»Jeder Anschlag auf Hitlers Leben, selbst wenn er nicht echt
wäre, sondern nur so aussähe, würde genau den
Vorwand liefern, den sie brauchen, um den nationalen Notstand
ausrufen zu können. Dann könnten sie die Verfassung
außer Kraft setzen und die Bürgerrechte aufheben. Sie
könnten die Presse zensieren und die Opposition zu Verbrechern
erklären. Eine Kettenreaktion
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