Schlafwandler
wäre die Folge, die zu
einer monströsen Fusion von Macht führen
würde.«
Kraus hörte Herrn
Oppenheimer mit morbidem Interesse zu. Wenn diese Theorie zutraf,
war es nur umso vernünftiger, alles Notwendige zu unternehmen
… bevor es wirklich zu spät war.
Kraus schlich mehrere
Tage lang um das Reichstagsgebäude herum. Er untersuchte die
gewaltigen Treppen und die großen Laderampen, die zu den
Vordertüren führten, aus verschiedenen Blickwinkeln,
versteckt zwischen den Statuen und Brunnen auf dem Platz der
Republik. Vom Tiergarten aus betrachtete er die neoklassizistische
Fassade und die hohen Glaskuppeln, durch die das Licht auf die
Gesetzgeber schien. Er stand auf der Dorotheenstraße und
musterte die Reihen von zurückliegenden Fenstern und die
spitzen Türme, die an den vier Ecken aufragten. Es war ein
monumentales Bauwerk. Bismarck hatte es in den neunziger Jahren des
19. Jahrhunderts erbauen lassen. Scheidemann hatte von seinem
Balkon aus 1918 die Republik ausgerufen. Und jetzt war Hitler fest
entschlossen, ein Mausoleum daraus zu machen.
Von den vereisten
Ufern der Spree aus beobachtete er die rußbedeckten
Lieferanteneingänge, führte Buch darüber, wer
hineinging, wer hinausging, wie oft und wann. Er kritzelte alles in
sein Notizbuch. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden
äußerst penibel durchgeführt, soviel war klar.
Solange das Parlament nicht tagte, war nur der Eingang fünf
des Reichstags geöffnet, der auf der Nordseite des
Gebäudes lag. Besucher, Angestellte, selbst Abgeordnete des
Parlaments wurden sorgfältig durchsucht, bevor sie eintreten
durften. Und pünktlich wie eine Schweizer Uhr drehte ein
Nachtwächter abends um sieben seine Runde und überzeugte
sich davon, dass jede Tür und jedes Fenster fest verschlossen
und gesichert war. Der Reichstag war wie eine Festung. Doch am Ende
des dritten Tages hatte Kraus so etwas wie einen Plan
entworfen.
Es wurde Abend. Ein
eisiger Wind ließ auf dem Fluss hinter ihm die Gischt
aufsprühen. Der Kontrollpunkt zum Lieferanteneingang des
Reichstags in der Sommerstraße lag in tiefem Schatten. Er
würde einen Lastwagen brauchen. Er hatte beobachtet, dass
einige regelmäßig hier verkehrten. Jeden Morgen um acht
kam ein gelber Postwagen, um neun ein schwarzer Müllwagen.
Montags um zehn kam ein Wäschelieferant, der abends um neun
zurückehrte. Kraus musste herausfinden, wo sich die
Lagerräume genau befanden. Er brauchte einen Grundriss. Morgen
würde er zuerst in die Bibliothek gehen, nahm er sich vor, und
dann erlaubte er es sich endlich, vor dem kalten Februarwind zu
fliehen.
Am Ufer der Spree
trotzte kaum eine Menschenseele der Kälte. Kraus erwischte zu
seiner Erleichterung einen Bus in der Nähe des
Bismarck-Ehrenmals und starrte aus dem Fenster, während er
versuchte, seine kalten Hände aufzuwärmen. Sein Blick
fiel auf einen Kiosk. Von einem Dutzend mit Klammern unter Lampen
befestigten Titelseiten starrten ihn dunkle, hypnotische Augen
an. GUSTAVE,
DER KÖNIG DER MYSTIKER, IM TIERGAREN
NIEDERGESCHOSSEN! Kraus’ Kehle schien sich zu
verschließen. Ihm fiel ein, dass Gustave ihm dasselbe
kitschige Werbefoto gegeben hatte, als sie sich verabschiedeten.
Mit einer Widmung. Für Kriminalinspektor
Kraus – einem wahren deutschen Helden. »Wer
weiß«, hatte er gesagt, »wenn ich tot bin, ist es
vielleicht etwas wert.« Sein Blick war ganz
unmissverständlich gewesen. Er hatte gewusst, dass er dem
Untergang geweiht war. Diesmal hatte er die Zukunft
tatsächlich vorausgesehen.
Der Teufel hatte am
Ende gesiegt.
Die Lesetische im
Hauptlesesaal der Preußischen Staatsbibliothek bildeten
schwindelerregende Kreise. Als Kraus am nächsten Morgen
zwanzig Minuten nach der Öffnung dort eintraf, waren sie
praktisch bis auf den letzten Platz besetzt. Er nahm den letzten
freien Platz, den er finden konnte, und überprüfte die
Blaupausen des Reichstags. Nervös schützte er sein
Notizbuch vor den Blicken seiner Nachbarn, während er den
Grundriss des Gebäudes skizzierte. Als er bemerkte, dass ihn
niemand auch nur eines Blickes würdigte, entspannte er sich
langsam. Vermutlich, so dachte er, ist das hier der sicherste Ort
in ganz Berlin. Er holte tief Luft, und seine Gedanken
überschlugen sich fast bei dem Versuch, die verschiedenen
Möglichkeiten abzuwägen, als er gegen Mittag fertig war.
Er hatte herausgefunden, dass die Lagerräume des Reichstags
direkt gegenüber den Wäschekammern lagen.
Als er durch die alten
Messingtüren der Bibliothek
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